Buch des Flüsterns
teurere Ware, als sie es beim ersten Blick zu sein schien. In seinem Inneren verfluchte der Kunde den Händler, verdammte den Vertrag, den er geschlossen hatte, denn er hatte zu spät begriffen, dass die gekaufte Zeit zu kurz blieb, unnütz, ungelebt. Und weil die als solche benannte Zeit nicht den Menschen gehört und man so, wie man nicht Nacht verkaufen kann, Wind oder Licht, auch keine Zeit verkaufen kann, hatten die Kaufleute ihr einen anderen Namen gegeben: Zinsen. Je mehr Zeit man benötigte, umso höher waren die Zinsen.
Die Zeit fließt mit dem Blut. Eine Welt ohne Blut ist eine Welt ohne Zeit. Die Kunden hatten bleiche Wangen, und ihr Blut war verdünnt wegen der zu geringen Zeit, die ihnen zur Verfügung stand. Die Kaufleute schätzten sie mit den Blicken ab. Dann zogen sie verstohlen und mit im Dunkeln leuchtenden Augen die polierten Münzen hervor. Der Mann nahm die Handvoll Münzen und gewann etwas Zeit, aber was er zurückzahlen musste, war stets mehr, zu viel für ihn. Deshalb wurden die Zeithändler angefeindet. Die Pfarrer verdammten die Wucherer. Am Tage wechselten die Leute die Straßenseite. Gegen Abend jedoch klopften die Schuldner und Bankrotteure, die Kartenspieler, gefallenen Frauen und verarmten Kaufleute wieder an ihre Türen und schlichen nach einem verängstigten Blick über die Straße hinein. Weil dieses Geschäft nicht mehr lange fortgesetzt werden konnte, ohne dass die Anfeindungen für sie gefährlich geworden wären, verzichteten die Juden nach und nach darauf. Sie sattelten um auf Kolonialwaren, wurden Kneipenwirte, manch einer auch Handwerker. Nun errichteten sie zweigeschossige Geschäftshäuser, und die Hauptstraße mit ihrem Kopfsteinpflaster, den breiten Bürgersteigen und schattigen Kastanien wurde zu einem Ort, an dem es eine Freude war, abends spazieren zu gehen und die Leute durch eine Verneigung des Kopfes zu grüßen. Diese Grußform hatte keinen anderen Zweck, als beim Gegrüßten die gleiche Verneigung zu erzwingen. Die Hauptstraße war für den Auto- und Fuhrwerksverkehr gesperrt. Am 10. Mai, dem Jubiläumstag der Dynastie, zog das Regiment im Stechschritt an den gedrängt auf den Bürgersteigen stehenden Passanten vorbei, darauf folgte die Blaskapelle und eine Schar von Kindern. Ein paarmal fuhr auch der König selber in seiner Kalesche mit den fransen- und quastengeschmückten Pferden auf seinem Weg nach Czernowitz hier vorbei. Mit dem Kriegsausbruch wurden die jüdischen Geschäfte nach und nach geschlossen. Das Erdbeben von 1940 hat die oberen Etagen weggefegt. Die unverkaufte Zeit befreite sich aus den verriegelten Kisten und erhob sich über der Stadt. Stundenlang schwebte der Staub über den Ruinen.
Nach dem Krieg, während der Hungerszeiten, verlagerte sich der Handel an den Stadtrand, wo mit der Eisenbahn aus Oltenien herbeigeschafftes Getreide verkauft wurde. Und als die Kommunisten kamen und der freie Handel nicht mehr möglich war, nahmen die im Staatshandel angestellten Verkäufer die Stelle der vormaligen Kaufleute ein. Die etwas stureren Kaufleute und Handwerker – die Armenier zählten zu dieser Gruppe – verlagerten Handel und Beruf ins eigene Heim, wo sie nach Sonnenuntergang tätig wurden. Bei Tageslicht waren sie angestellte Verkäufer und Mitarbeiter der Kooperativen, sie waren angehalten, auf Punkte zu verkaufen, auf Bezugsscheine oder zu Preisen, die in der Zeitung veröffentlicht und an Wänden und Mauern plakatiert wurden. Preisen, die am 1. Mai und am 23. August 1 um je fünf Bani gesenkt wurden, um damit die Überlegenheit der neuen kommunistischen Ordnung gegenüber dem vermoderten Kapitalismus unter Beweis zu stellen. Großvater Garabet und sein Schwager Sahag schlossen ihre Läden auf der Hauptstraße. Während des Krieges stellte Großmutter Arșaluis Puppen her und verkaufte sie. Großvater ging, das Stativ auf dem Rücken, durch die Straßen. Manchmal hielt ihn ein deutscher Soldat an und ließ sich fotografieren, um denen zuhause anzuzeigen, dass er in diesem Krieg gegen die Russen noch am Leben war. Etwas später fotografierte er die Russen, die denen zuhause beweisen wollten, dass sie im Krieg gegen die Deutschen noch am Leben waren. Und zuletzt fotografierte er die Heimkehrer, die niemanden hatten, an den sie die Fotos hätten schicken können, sie wollten sich selbst beweisen, dass sie noch lebten.
Von den Mönchen meines Volkes habe ich die Kraft empfangen, das Herzgebet ohne Worte zu sprechen. Und das Kreuz zu schlagen,
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