Buch des Flüsterns
worüber mir Großvater Garabet Folgendes erzählte: Die Bäume tragen das Kreuz an der Stelle, wo die Zweige sich überschneiden. Wenn die Vögel ihre Flügel ausbreiten und fliegen, machen sie das Kreuz am Himmel. Von allen Wesen, die es auf der Welt gibt, trägt nur der Mensch dieses Zeichen nicht am Leib. Deshalb hat sich unser Herr Jesus Christus für uns kreuzigen lassen.
Von den Kriegern meines Volkes habe ich die Kraft empfangen, mich besiegen zu lassen, denn nur Besiegte sterben tatsächlich für ihre Ideen. Aber auch, dass man sich gerade deshalb wie ein Sieger zu verhalten hat. Ich lernte, die Geschichte anders zu lesen, anhand der Spuren, welche die Hufe der Pferde hinterlassen. Diese Spuren besagen, dass in der Stille nach der Schlacht ein Pfeil in der Luft bleibt, der noch nicht niedergegangen ist, dass eine Wunde übrig bleibt, die nicht genug geblutet hat, dass man ein Wiehern hört, das der Schaum an der Kandare nicht erstickt hat. Ich spüre unterschiedliche Geschmäcker im Mund. Die Krieger meines Volkes haben reitend immer den geraden Weg eingeschlagen, wie oft die Zeitläufte auch auf- oder abgestiegen sein mochten. Auf dieses Weise hat mein Volk die Geschichte ebenso gekreuzt, wie man nicht von einem zum anderen Ufer gelangen kann, ohne das Wasser zu überqueren.
Von den Hirten meines Volkes habe ich die Kraft empfangen, die Jahreszeiten zu ehren. Die Kaufleute aufzusuchen, habe ich aber nicht aufgehört. Schon als Kind war ich fasziniert vom Verkaufstresen. Ich hockte auf den Steintreppen, schaute durch das Fenster in den Laden hinein oder verweilte darin. Das Holz war dunkel, speckig oder von Krümeln bedeckt, Hände wurden darüber hinweg gestreckt, um die Geldbündel zu fassen, und Waren wurden ausgebreitet, betastet, begutachtet. Eine Grenzlinie, die sich auf keiner Landkarte wiederfindet. Wünsche und Trugbilder konnten hinüberwechseln, aber niemals Menschen, wie über die Ufer des Acheron.
Ich lebte unter armen Leuten. Auch das Warenangebot war danach. Zucker und Mehl wurden direkt aus den Säcken verkauft, den Reis putzten wir, über ausgebreitete Zeitungen gegossen, klaubten die Unkrautsamen heraus. Die Marmelade wurde mit dem Messer vom Stück abgeschnitten, und der Käse, von dem es nur eine Sorte gab, wurde aus Fässern verkauft, in denen die Salzlauge dazu diente, Frische vorzutäuschen. Die Fußbodendielen waren mit Gasöl eingelassen, damit die Bretter von den vielen Schritten nicht durchgetreten würden, und an den Decken hing eine Art Ventilator, wie ein Propeller, der die Mücken vertrieb und einen Hauch Kühle über die Fleischwaren wehte, deren Blut an den schwarzen Rändern gerann. Viele andere Dinge stellten wir zuhause her. Aus den Früchten im Hof, vom Baum gepflückt oder bunt durcheinander vom Boden aufgesammelt, wurde Kompott gemacht. Die grünen Tomaten und das Kraut wurden in Holzfässer gestopft, die erst vor den Feiertagen geöffnet wurden. Die ranzig gewordenen Fette wurden in der Kammer gesammelt und einen Tag lang blubbernd eingekocht, bis sie sich eindickten zu Seife. Lindenblüten und Kamillen, Pfefferminzblätter und Hagebutten wurden getrocknet für den Tee. In den Hinterhöfen gab es Hühnerställe und mitunter auch Schweinekoben. Das Fleisch wurde in Dunstgläsern unter Schmalz aufbewahrt. Viele hatten sich zur Kriegszeit angewöhnt, das Brot zuhause zu backen, und stellten abends den Teig hin zum Aufgehen, schauten verwundert zu, wie die Hefe die Masse anschwellen ließ. Andächtig betrachteten wir die wenigen Speisen, die man kaufte. Als wären sie Gäste. Wir verzehrten sie verlegen, besahen nach jedem Bissen den noch übrig gebliebenen Teil.
Und eben deshalb, welch eine Herrlichkeit war das Geschäft! Ich schlich mich alleine hinein oder an Großvaters Hand und freute mich. Die Hanfsäcke mit Mehl, geschrotetem Mais, Zucker und Reis in Bobârcăs Lebensmittelladen kamen mir vor wie die Goldsäcke einer Schatzkammer. Alles, was sich jenseits des Verkaufstresens befand, bekam den Glanz und das verlockende Aroma einer verbotenen Welt. Der Tresen war eine zu hohe Schwelle für meine Kinderstatur.
Bobârcă, der Zöllner, der die verbotenen und verlockenden Dinge bewachte, hatte etwas dunklere Haut und trug immer Kittel mit weiten Ärmeln. Das breite Messer steckte an seinem Gürtel, und wenn er es über die Marmeladen oder Halva-Stücke erhob, vollführte er damit ein Paar Drehungen in der Luft, als forderte die glänzende Klinge ein Opfer. Die
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