Buch des Flüsterns
der Holzkiste und nickte zustimmend, schien aber kaum mehr etwas zu verstehen.
Es kann Krieg sein und kann auch nicht Krieg sein. Die Russen haben vielleicht das Land nur verlassen, um wieder zurückkehren zu können. Wenn wir noch etwas erfahren, versammeln wir uns wieder. Was zu tun ist, weiß Gott allein. Und jetzt geht alle der Reihe nach.
Einer nach dem anderen gingen sie schweigend hinaus. Als Erster Ohanes Krikorian. Dann Arșag, der Glöckner. Pfarrer Varjabedian. Großvater Garabet, Anton und Krikor, die Schustermeister, und Sahag Șeitanian, und zuletzt die Jüngsten: Dicran Bedrosian, Agop Aslanian und Vrej Papazian. Măgârdici ging, um in anderen Gefilden sein Leben zu beenden, aber auch er hatte sich auf dem armenischen Friedhof – neben seiner Mutter Macruhi und seiner Tante Aghavni, welcher Name Täubchen hieß – einen Liegeplatz besorgt.
Danach hat Großvater mich nicht mehr ausgesandt, alle zusammenzurufen. In der Stadt und im Wäldchen erblühten wieder die Kastanien. Die reifen Nüsse und Kastanien vermischten sich auf den Alleen und in den Spielen meiner Kindheit. Die Tür zur Gruft von Seferian blieb stets halboffen für sie. Ab und zu dringt dünner und süßlicher Weihrauchduft daraus hervor. Arșag hängt sich an die dicken Seile der Big-Ben-Glocken, zieht daran, lässt sich hochlüpfen und jauchzt auf. Großvater schaut zu, wie sie sich streiten, und vermengt die Sesshaftigkeit mit der Wanderschaft, die Hilflosigkeit der leeren Hände mit den legendären Waffen von General Dro. Er hebt die Hand, damit Stille einkehre. Die Namen sind jedes Mal andere. Martin Luther King, Kennedy, diesmal aber Robert, Aldo Moro, Anwar al-Sadat, Olof Palme, Indira Gandhi, Itzhak Rabin, Anna Lindh, Benazir Bhutto. Und viele andere, weniger bekannte Namen, die sie jedoch alle kennen. Keine Bewegung!, ruft Arșag und buchstabiert die krächzenden und pfeifenden Worte aus dem Telefunken; aber auch das ist nicht mehr nötig, denn in der Welt zwischen den Wurzeln kennt man sämtliche Sprachen der Erde. Wer ist schuld?, fragt einer. Die Welt dreht sich verkehrt rum, sagt ein anderer. Ganz selten einmal, wenn auf der Erde Stille herrscht, hört man sie flüstern. Man würde meinen, es gebe nichts mehr, wovor sie Angst haben müssten, aber dem ist nicht so. Sie möchten das Lebendige schützen und benötigen es genauso wie früher. Denn nur eine lebendige Welt hat ein Anrecht auf ihre Toten.
Wenn sie von Ferne Mantus Tuba hörten, kamen die Leute haufenweise aus den Höfen. Und wenn sich den tiefen Vibrationen der Tuba die Klagetöne der Trompete und der Flügelhörner beigesellten, standen sie schon aufgereiht auf den Trottoirs der Gerberstraße, um den Leichenzug zu sehen.
Die Gerberstraße verband das Zentrum mit der Câmpineanca-Schranke. Jenseits der Schranke befand sich der Friedhof. Der einzige Weg, den die Leichenzüge nahmen. Der Tote wurde zuhause oder in der Kirche abgeholt. Der Mensch, krank bis zu diesem Zeitpunkt und ignoriert oder bei Kräften und von einem plötzlichen Tod hinweggerafft, rückte plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Man interessierte sich für ihn, sprach voller Mitgefühl von ihm, wusch und kleidete ihn schön, trug ihn dahin und dorthin und begleitete ihn überallhin wie eine Braut.
In unserer Vorstadt verstanden sich ein paar ältere Frauen darauf, Witwen gewöhnlich auch sie. Sie tauchten unerwartet auf, mitunter sogar schon, bevor der Kranke seine Seele ausgehaucht hatte. Diese Frauen lösten Furcht aus, und hinter den Bretterzäunen schauten die Leute mit scheelen Augen nach ihnen. Sie verfügten über einen genauen Instinkt, hatten vorab schon den süßlichen Todesgeruch in der Nase, nichts konnte sie unvorbereitet überraschen. Wir atmeten im Rhythmus der Jahreszeiten und witterten so den rohen Duft der Frühlingsblumen, die schweren und trockenen Aromen des Sommers, die Dämpfe der Plaumenmuß-, der Schnaps- und Bouillonkessel im Herbst und den metallischen Geruch des Schnees. Für sie aber gab es nur eine Jahreszeit auf der Welt mit vermischten erdrückenden Gerüchen. Mitunter kam ein Gerücht auf: Madame Stavarache ist heute in unserer Straße, in der Schneeglöckchengasse, gewesen. Der arme Temelie, der Schreiner, er macht es wohl nicht mehr lange. So war es dann auch. Der Alte, der uns die Holzschwerter schliff, damit wir Haiducken spielen konnten, und der sich am Heldengedenktag gut anzog, sich die Medaillen an die Brust heftete und zur Heldenstatue
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