Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
Vom Netzwerk:
vor dem Gerichtsgebäude eine Blume ablegen ging, verschied kurz darauf. Dann wiederum bemitleideten die Nachbarinnen in unserer Straße Mițu, die alte Frau Rădulescu. Denn die Witwe Nistor schlich ständig um die alte Kirche, die des heiligen Dumitru, in deren Hof die Familie Rădulescu wohnte. Die Witwe Nistor hatte recht, sie witterte den Geruch des sich verdünnenden Blutes. Mițu aber lebte noch etwa zehn Jahre, rauchte ihre Carpați-Zigaretten auf dem Kanapee unter der Linde und hustete mannhaft. Wer starb, war ihr Sohn, Herr Rădulescu, den ich täglich auf seinem Weg zum Dienst mit dem Fahrrad vorbeifahren sah, die Manschetten seiner Hosen von Klammern zusammengerafft, damit sie nicht in die Kette gerieten.
    Den Leuten tränten die Augen auch dann, wenn der Kranke lange leidend darniedergelegen oder über die Maßen alt geworden war. Wenn es kein grausamer Tod war und es sich nicht um einen noch bei Kräften befindlichen Menschen handelte, war das Weinen der Klageweiber eher ein Weinen um sich selbst.
    Vor dem verrückten Mitică, der in einer Lehmhütte auf der Petru-Maior-Straße wohnte, fürchteten sich alle. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, als wäre es von Krallen zerfurcht und die Kratzer niemals vollständig verheilt. Die Augen waren wässrig, die Iris hatte sich im Augapfelweiß aufgelöst, er war nicht blind, sondern sah gleichermaßen mit dem ganzen Auge, etwa so, wie es die Statuen der alten Griechen in den Büchern getan haben mussten. Er trug stets die gleichen khakifarbenen Hosen, Militärhosen, im Winter zog er auch den Uniformrock an. Diese Kleidungsstücke besaß er seit dem Krieg, damit war er entlassen worden, und wahrscheinlich wird man ihn darin auch beerdigen, wenn er sich nicht zuvor versteckt wie die Wölfe. Seine Hände waren schwielig vom Holzschneiden, davon lebte er. Die Nachbarn hatten Angst, ihn mit dem Beil in den Händen zu sehen. Sie verständigten sich mit ihm und hielten die Kinder anschließend bei verriegelten Türen im Haus. Das Essen stellten sie ihm auf einen Holzklotz, er aß, was man ihm gab, verlangte niemals etwas, nicht einmal Salz, wenn die Bohnen ungewürzt waren, auch keine Zwiebeln, wenn sie zu süß geraten waren, oder Wasser, wenn sie ihm versalzen vorkamen. Wenn er Durst hatte, trank er aus dem Fass unter der Regenrinne, in dem das Wasser zum Wäschewaschen aufgefangen wurde. Im Winter knetete er einen Schneeball und biss wie von einem Apfel Stücke davon ab. Beim Gehen war seine rechte Schulter nach vorne gebeugt, und er lachte unter dem Höcker über der linken Schulter, als verwunderte er sich selbst darüber, dass dieser ihm dorthin geklettert war. Er lachte immerzu, rauh und röchelnd, freudlos, als müsste er einen Erstickungsanfall im Rachen loswerden. Seit Stalingrad war er so, erzählte Temelie. Ein russischer Panzer war über ihn gerollt: Beim Davonrennen war er in ein Schneeloch gefallen, und über ihm hatten die Panzerketten gerasselt, die ihn nur mit ihrem Krach und der Todesangst erdrückt hatten. Lange hielt er sich verborgen, sie hatten ihn für tot gehalten und seine Sachen zu einem Bündel verschnürt, um sie nachhause zu schicken. Damals hatte er sich angewöhnt, Schnee zu essen, nicht nur daran zu lecken, wie die Tiere, sondern ihn richtig zu verschlingen, ihn knirschend zu zerkauen und die Eisstücke mit den Zähnen zu zermalmen wie dünne Knöchlein. Am Heldengedenktag gingen sie zusammen zur Statue vor dem Gerichtsgebäude, Temelie stets sorgfältig gekleidet, mit gebügeltem weißen Hemd und schwarzer Krawatte, die Auszeichnungen auf der Brust ordentlich aufgereiht, und hinter ihm, hopsend und lachend, Mitică in seinem ausgebeulten Militäraufzug. Der Tischler und der Brennholzmacher, die Helden von Stalingrad. Temelie legte eine Blume zu Füßen der Statue und verharrte reglos, den Blick gesenkt. Mitică schrie herum, verhackstückte seine Worte durch das Lachen und gab den Text von der Denkmalplatte wider, der an die Toten auf den Schlachtfeldern erinnerte. Aber er begnügte sich nicht damit, sondern las auch die Zeilen, welche die Kommunisten mittlerweile mit Mörtel zugeschmiert hatten, und die er – die Seele von den russischen Panzern zerquetscht – auswendig konnte.
    »Im heiligen Krieg«, lachte Mitică, »zur Zeit der ruhmreichen Herrschaft von König Carol I., dem Begründer, und von König Ferdinand, dem Vollender des Landes«. Als die Miliz ihn zum Schweigen bringen wollte und ihn über den Platz zerrte, wehrte

Weitere Kostenlose Bücher