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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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ihnen vertraut, die Worte des Sprechers, es war die gleiche Stimme wie während des Krieges, als sie ihr unter den Betten, in Kellern, Warenlagern oder zwischen Holzstapeln gelauscht hatten. Dann wurden die Dinge komplizierter.
    Übersetz, Arșag, bat Großvater.
    Er sagte, wenn man die Seele eines Volkes verstehen will, muss man dessen Glockenschläge verstehen. Die Sprachen der Glocken sind, wiewohl sie ähnlich zu klingen scheinen, von einem Volk zum anderen verschieden. Wie es auch der Himmel ist. Wenn die Menschen nach oben schauen, sehen sie den gleichen Himmel, aber jeder findet dort andere Götter oder Heilige vor. Arșag hatte an den Orten, wo er als Glöckner oder Messdiener tätig war, alle Sprachen gelernt. Von den Katholiken hatte er das Italienische aufgeschnappt. Bei den Protestanten das Englische und von den Lutheranern das Deutsche. Er verstand die Sprachen, sprach sie aber nicht. Wenn er reden sollte, äußerte er sich in unterschiedlichen Rhythmen und Tönen: Bang-ba-bang-ngabang. Das war Deutsch. Oder: Baganga-agabang. So ist das Italienische. Er sprach die Sprache jedes Volkes in der Sprache ihrer Glocken.
    Rührt euch nicht!, sagte er, als er um Stille bat.
    Um zu hören, benötigte Arșag keine Stille, sondern Reglosigkeit. Weil er taub war und, selbstverständlich, die Worte nicht von den Lippen des Sprechers ablesen konnte, kniete er nieder und legte das Ohr an die Holzverkleidung des Radios, um die Vibrationen zu spüren.
    Was sagt er? Die Schuster Anton und Krikor reckten die Hälse.
    Arșag erhob den ausgestreckten Finger und zeigte an, dass er zu verstehen begann.
    Einer, Johnson, der neue Präsident. Der sagt also, sie sollen durchhalten. Das amerikanische Volk. Schwer. Tod. Justiz. Ihr werdet schon sehen. Gott segne Amerika. Das war Johnson. Jetzt der Sprecher. Streiks und Trauer. Den Mörder haben sie gefunden. Li Oswald hat Kennedy umgebracht. Jack Ruby hat Li umgebracht. Den Ruby hat noch niemand umgebracht.
    Arșag hörte noch eine Minute lang zu, nickte schweigend Zustimmung. Anton stupste ihn ungeduldig an. Arșag erhob sich.
    Das war alles. In einer Stunde gibt es wieder Nachrichten.
    So lange bleiben wir nicht mehr, sagte Agop. Seelengedenken in der Dunkelheit, wo gibt’s denn so was? Die werden glauben, wir sind irgendwelche Wiedergänger.
    Es ist klar, sagte Sahag, die Kommunisten sind schuld.
    Das haben sie nicht gesagt, widersprach Arșag.
    Nun ja, die sind doch nicht dumm und sagen es so direkt. Wer gescheit genug ist, versteht es. Gehen wir es mal der Reihe nach durch. Dieser Li, der, sagst du, hat Kennedy umgebracht?
    So hat er es gesagt. Und dass er zweimal geschossen hat ...
    Gut, fuhr Sahag fort, und Li ist ein chinesischer Name. Einverstanden?
    Nur die Chinesen haben so kurze Namen ..., bestätigte Krikor.
    Sind die Chinesen Kommunisten? Sie sind es. Und wer hat Li umgebracht? Ruby. Gut, dass sie nicht gleich Rubinstein gesagt haben. Wer hat nun den Bolschewismus gebracht, nicht die Juden? Diese Lenin, Sinowjew, Kamenew und Trotzki waren mir schöne Prawoslawen. Sieh an. Ein Streit unter Kommunisten.
    Die Kommunisten streiten sich nicht, wandte Dicran Bedrosian ein. Der proletarische Internationalismus ...
    Pfui Teufel!, schüttelte sich Pfarrer Varjabedian.
    Also dann, sieh, die Sache steht so, begann mein Pate Sahag, der nun Mut gefasst hatte. Die Welt dreht sich verkehrt rum. Die Amerikaner streiten sich mit den Russen, die Russen streiten sich mit den Chinesen, die Chinesen streiten sich mit den Vietnamesen, die Vietnamesen streiten sich untereinander in Indochina, Indochina streitet sich mit den Franzosen, und die Franzosen mit ihrem De Gaulle und allen anderen, die streiten sich mit den Amerikanern. Der Kreis schließt sich. Das ist kein Weltkrieg mehr, das ist ein universeller Krieg.
    Wir haben schon zwei Kriege durchgemacht, reicht das nicht?, klagte Anton Merzian.
    Du siehst ja, dass es nicht reicht, antwortete Agop Aslanian. Die Menschheit ist verrückt geworden.
    Die Apokalypse, sagte Pfarrer Varjabedian und bekreuzigte sich dreimal.
    Wir werden uns nicht mehr von da nach dort treiben lassen, beschloss Krikor Minasian. Ich habe so viele Kriege erlebt, dass ich ihrer müde bin. Wenn wir noch die Legionäre und die Kommunisten dazu nehmen, hat es uns wirklich knüppeldick erwischt.
    Die Waffen von General Dro, begann nun Sahag Șeitanian wieder. Wir sollten sie suchen.
    Großvater gab Arșag einen Wink, das Radio auszuschalten. Noch klebte er mit dem Ohr an

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