Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
Vom Netzwerk:
gleich, die sich wieder aufrichten, wenn die Pferde über sie hinweggezogen sind.
    Also, in unserem Hof gab es drei aneinandergeklebte Häuser. Das erste hatten die Meinen in den dreißiger Jahren auf einer Brache in der Umgebung der Kirche des heiligen Dumitru gebaut. In meiner Kindheit war die Kirche nach dem Tod des Pfarrers aufgegeben worden. Wir Kinder hatten uns dort einen richtigen Fußballplatz eingerichtet und organisierten unglaubliche Spiele »nach Straßen«. Also die Straße des 6. März gegen die Schneeglöckchenstraße oder die Gerberstraße gegen die Gheorghe Asachi. Mit Groß und Klein. Auf der anderen Seite war die Eisfabrik, die, wie hätte es auch anders sein können, »Kühlschrank« hieß, und dann folgte die Gerberstraße, die das Zentrum mit der westlichen Bahnschranke und den Friedhöfen verband. Ansonsten kleinere Häuser und größere, je nach Vorstellung, Geduld und Vermögen der Eigentümer, vom Regen abgewaschene, auf einem Sockel ruhende Zäune, hinter denen die Hunde bellten, gepflasterte und ungepflasterte Bürgersteige, Staub zu Trockenzeiten sowie Schlamm bei Regen, von Rädern aufgewühlt, und trübe Rinnsale, die durch die Straßengräben flossen. Dort haben Großvater Garabet und sein Schwager Sahag Șeitanian ihre Häuser gebaut. Und später hat dann auch Vater noch eines für sich und uns Kinder hinzugefügt. Der Hof war groß, voller Blumen, Bäume, verwinkelter Lauben und Schatten. Zu jenen Zeiten hatten die Menschen es nicht so eilig. Die Zeit war ungefähr. Kommt so gegen Abend, damit wir einen Kaffee trinken oder Tavla spielen, sagte Großvater Garabet seinen alten Freunden. Nicht zu der oder jener Uhrzeit, um sechs oder sieben. Oder: Wir sehen uns morgen früh auf der Hauptstraße. Trinken in der Uhrmacherei von Dicran Bedrosian einen Kaffee. Auf diese Weise war das Warten entspannt, und niemand kam zu spät. Und sie trafen sich immer. Auch die Essen dauerten länger. Die Leute begannen ganz allmählich zur Mittagszeit, und wenn sie aufhören sollten, gegen Abend, ließen sie sich noch einmal nieder zu Käsereien, Pastrami und geräucherten Ziegenwürsten, Speisen, von denen man nur ganz wenig zu sich nahm, auf denen man jedoch lange herumkaute.
    Wenn ein Ort neu ist und man sich noch nicht recht daran gewöhnt hat, verrinnt die Zeit schneller. Aber zwischen Möbelstücken, an die man sich schon lange gewöhnt hat, wenn man in den gleichen Schubladen herumkramt, sich in die gleiche Decke wickelt und sich in den gleichen Sessel kauert, scheinen die Stunden länger zu währen. Die Uhren wurden erfunden aufgrund des Unvermögens, die Zeit zu beherrschen, sagte Meister Simon, ließ sich auf dem Kanapee im Hof in die weichen Kissen zurücksinken und schloss zufrieden die Augen. Ebenso wie die Waffen, die ein Zeichen menschlichen Unvermögens sind, nicht der Stärke. Er saß stundenlang nur so da und schaute in den Garten. Er sprach wenig, und stets begleitete ihn eine gewisse Unzufriedenheit. Er hatte eine Müdigkeit in sich, die er nicht loswerden konnte, selbst an den Nachmittagen nicht, die er reglos und mit bis zu einem schmalen Schlitz geschlossenen Augen an seinem Kaffee schlürfend zubrachte.
    Onkelchen Simon war der ältere Bruder von Onkel Sahag. Er war 1946 mit der ersten Gruppe von Repatriierten nach Armenien gegangen. Die Geschichte der Repatriierungen werdet ihr nirgends vorfinden, denn bei all ihren Schrecken wollte sie niemand bis zu Ende erzählen, geschweige denn aufschreiben. Und vielleicht hätte sie auch keinen Eingang ins
Buch des Flüsterns
gefunden, hätte Onkelchen Simon nicht das Laster gehabt, so viel zu rauchen. Solche Zigaretten hatte ich noch nie gesehen. Zur Hälfte waren sie mit Tabak gefüllt, ein beißender Geruch hing in ihrem gelblichen Rauch, als verbrenne man trockene Blätter. Die andere Hälfte war leer, ein Kartonröllchen, das der Rauch vergilbte.
    Daidai
Simon, Onkelchen, wie wir Kinder ihn auf Armenisch nannten, rauchte ununterbrochen, und wenn er nicht schwieg, sagte er seltsame Dinge. Wie alle Alten meiner Kindheit faszinierten Großvater Garabet die ätherischen Dinge: Luft und Licht. Wie schade, sagte Großvater, dass die Menschen nicht in der Lage sind, das Licht so zu sehen, wie es wirklich ist, und der Luft und ihren Melodien zu lauschen, ohne den Zwang, sie auseinanderzunehmen, sie aufzudröseln, sie zu beschleunigen oder abzuwürgen. Wenn die Luft singt, weil sie durch Röhren gepustet wird, durch Trichter oder Löcher, dann

Weitere Kostenlose Bücher