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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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heißt dies nicht, dass irgendein Ton erfunden wird, sondern dass man die Töne spitzer oder lauter hört. Leider haben die Leute keine Geduld, die Luft in ihrem Ruhezustand zu verstehen. Großvater lauschte auch den Tönen, die man nicht hörte. Onkel Sahag zogen die Dinge an, die geschehen oder nicht. Er liebte die Würfel. Er spielte Tavla oder
Ghiulbahar
, erfand ausgeklügelte Methoden, die Würfel zu schütteln, in den Handhöhlen, in Tassen, die er mit der Hand verdeckte, indem er sie erst einmal in die Höhe warf, damit keinerlei menschliche Einflussnahme möglich war. Onkel Sahag war unruhig und jederzeit bereit, sich jedwede Phantasie, jedes Komplott, alle verborgenen oder verschlungenen Tücken vorzustellen oder anzunehmen. Ihm schien alles möglich. Jeder Mensch ist ein rollender Würfel. Die Welt besteht aus Millionen und Abermillionen Würfeln, die sich vermischen und dann auf die runde Tischplatte rollen. Mit kleinerer oder größerer Punktzahl, zusammenpassend oder völlig durcheinander.
    Dafür zogen Onkelchen Simon weder die ätherischen noch die zweifelhaften Dinge an. Er sprach über die feststehenden und unbezweifelbaren Dinge. Über den Boden nämlich und über Steine. Der Boden gehörte zum lebendigen Teil, während die Steine zum toten Teil zählten, wie die Knochen im Leib, so schien es wenigstens. Großvater schaute in die Tiefe des Himmels hinauf und lachte über Arșag, den Glöckner, der beim Hochschauen schon in der Höhe der Vögel innehielt. Onkelchen Simon schaute zu Boden. Heute Nacht hatte ich eine Vision, hörte er sich sagen. Ich schaute zum Erdmittelpunkt hinunter. Dort war es hell wie am Himmel.
    In seiner Kindheit war Onkelchen Simon Wassersucher. Die Böden in Anatolien waren trocken, es regnete selten und in großen, schnellen Tropfen. Der Regen reichte kaum aus, den Durst des Bodens zu stillen, geschweige denn den der Menschen. Deshalb schauten die Menschen, wenn sie Linderung suchten, nicht auf den Himmel, sondern auf den Boden. Wer verborgene Schätze suchte, war eigentlich Wassersucher. Einige von ihnen waren Zauberer, die allerlei merkwürdige Handlungen vollführten, um die Quellen in der Tiefe zu ermitteln. Sie stellten an geheimen Stellen Schwefelfeuer auf, schlugen auf gespannte Trommelfelle, brabbelten alte Wörter, armenische oder ägyptische. Andere wieder waren richtige Hochstapler. Sie ließen sich fürstlich bewirten, wiesen anschließend auf die Stelle, und während die Dorfleute sich ans Graben machten, verzogen sie sich und hinterließen die schrillen Klänge der ins Gestein getriebenen Spitzhacken. Da gab es auch die Zeichenleser. Sie deuteten den Gräserbestand, welche Kräuter und Gräser an dieser oder jener Stelle wuchsen, wie der Boden aufriss oder sich ineinanderfügte, welche Farbe er hatte, und hielten sich an die Eselswege oder die Pfade der Kamele. Manchmal trafen sie die richtige Stelle, manchmal gingen sie fehl. Mal war das Wasser süß, mal war es salzig und nur für die Wäsche zu gebrauchen.
    Onkelchen Simon hielt sich an den Geschmack des Bodens. Er ging langsam, den Kopf geneigt, als könne er durch den Boden schauen wie durch klares Wasser. Dann lauschte er, das Ohr am Boden. Zu guter Letzt, wenn das Gesehene und Gehörte ihn dazu ermutigte, scharrte er mit den Fingern. Wenn er auf weichen Boden stieß, nahm er ein bisschen davon auf die Zungenspitze und wälzte ihn mit geschlossenen Augen durch den ganzen Mund. Anfangs schauten sich die Leute dieses seltsame Kind ungläubig an, das wie ein Stück Vieh Erde verkostete, ihr nachschmeckte, zu ihr sprach und darauf herumkaute, als wäre sie Weizengebäck. Dann merkten sie, dass er selten fehlging, und sie kamen von weither, damit er ihnen den Weg zum Wasser weise.
    Es gibt gute und schlechte Orte, sagte Onkelchen Simon. Wie die Welt und die Menschen verschieden sind, ist auch der Boden nicht überall gleich. Mal ist er fruchtbar oder karg, feucht gärend oder trocken, lebendig oder tot. Es gibt klebrigen Boden, für Töpfereien oder Glocken geeignet, und unbrauchbaren, der einem zwischen den Fingern zerbröselt und sich nicht verbindet. Boden für Häuser und Boden für Ackerfurchen, Boden für Blumen, Boden für Straßen und Wege und Boden für Grabstätten. Über unruhigem und bearbeitetem Boden herrscht Ruhe. Solches geschieht über Friedhöfen, wo der Boden selbst arbeitet und deshalb die Luft darüber stillsteht.
    Im Jahre 1946 hatte sich Onkelchen Simon zusammen mit seiner Frau und den

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