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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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einen großen Saal gebeten, wo ein aus der Sowjetunion angereister Repräsentant zum ersten Mal etwas von einer Repatriierung verlauten ließ. Großvater merkte sich seinen Namen, weil dies an einem solchen Ort völlig ungewöhnlich war. Der Mann hieß Astvadzadurian, was übersetzt so viel bedeutet wie Gottesgeschenk. Er sprach vom unbeschreiblichen Wohlstand, der in der Armenischen Sowjetrepublik herrsche, von den neuen Wohnvierteln, den neuen breiten, lichtdurchfluteten Boulevards, von der brüderlichen Freude, mit der die Menschen ihrer Nation sie in Jerewan, Leninakan und in allen anderen Städten und Dörfern Armeniens erwarteten. Die Leute hörten mit großen Augen zu und versuchten, jene erdklumpenschwere armenische Sprache zu verstehen, die abgehackt klang und durchsetzt war mit russischen Wendungen.
    Alles Lügen, stieß Sahag Șeitanian hervor, aber nicht dort, denn in der Botschaft hatten sie alle mit Blick auf die bewaffneten Soldaten mucksmäuschenstill geschwiegen, sondern, als sie zurückgekehrt waren, im quadratischen Saal der Kirchengemeinde.
    Die Gebäude im Hof der armenischen Kirche in der Bahnhofsstraße von Focșani, die bis zu Beginn des Jahrhunderts als Schulen genutzt wurden, waren anderen Nutzungen zugeführt worden. In den Verwaltungsräumen der Knabenschule wohnten nun Minas, der Blinde, und zwei, drei weitere Arme aus der Gemeinde. Solche, die bei Beerdigungen zusammenliefen, um die in Handtücher eingewickelten Münzen entgegenzunehmen, und sich anschließend beim Gedenkgottesdienst um das Spanfeuer im Godin-Ofen versammelten, um sich ein bisschen aufzuwärmen. In der Mädchenschule war der Kanzlei-Raum noch in Betrieb, er roch nach ungelüfteter Stube, lange schwere Tische aus dunklem Holz standen darin, Bilder hingen an den Wänden, Heilige, Generäle und Herrscher drunter und drüber. Da sich die Zeitläufte unter verriegelten Schlössern und zwischen Buchseiten am allerbesten verbergen können, gab es in dieser Kanzlei ebenso wie in den Räumen dahinter noch allerhand. Mehr als zwanzig Jahre nachdem alles nach Bukarest ins Kirchenmuseum überführt worden war, konnte ich das Geheimnis der verriegelten Koffer lüften. Sie enthielten Kultgegenstände und -kleider aus der Zeit, als die Kirche der heiligen Maria errichtet worden war. Die Bücher, in schönstes Leder eingebunden, rochen nach dem Schweiß der Tiere, ihre Seiten waren im Laufe der Zeit, vom Weihrauch und durch die Finger, die sie umgeblättert hatten, vergilbt. Sie waren auf Altarmenisch geschrieben worden, das heute nur noch im Gottesdienst verwendet wird. Großvater hatte eine Bestandsliste beigefügt: zahlreiche Bibeln, die
Geschichte
des Moses von Khoren, die
Philosophie
von David, dem Unbesiegbaren, das
Buch der Klagen
des Gregor von Narek, die
Gedichte
von Saiat Nova. All diese Bücher lebten nur einmal im Jahr. Am Tag der heiligen Übersetzer Mesrob Maștoț und Sahag Bartev, des Mönchs und des Patriarchen, die im fünften Jahrhundert die Bibel ins Armenische übersetzt hatten; wir Kinder zogen dann die Bücher aus den Regalen und wischten mit weichen Tüchern den Staub von ihnen. Wir durften sie nicht aufschlagen, ihre Seiten waren trocken wie Herbstlaub, und sie hätten uns in den Händen zerbröseln können. Großvater stellte sie wieder der Reihe nach auf, und sie schliefen ein weiteres Jahr, und noch ein Jahr. Für die Bücher vergingen die Jahrhunderte schneller.
    All dies sind Lügen, wiederholte Sahag am Kopfende des Tisches, näher bei den Büchern, die er anscheinend als Zeugen aufrief. Fragt Temelie, der bis nach Stalingrad gelangt ist. Der soll euch berichten, was er in Russland gesehen hat.
    Damals war Krieg ..., erwiderte Dicran Bedrosian.
    Aus der ganzen Welt kommen die Menschen, fuhr Astvadzadurian mit rauher Stimme fort und schaute wie bei einer Vorführung über die Köpfe der Teilnehmer.
    Die in den ersten Reihen stimmten zu und schauten aus den Augenwinkeln ans Ende ihrer Reihe, wo das Zeichen zum Beifall gegeben wurde. Damit hinterherzuhinken, ging nicht an. Und der Redner legte nun erst richtig los, er öffnete weit die Arme:
    Aus Frankreich, aus Griechenland, aus Syrien, aus dem Libanon, von überallher. Armenien wird zum Mittelpunkt der Welt. Die Konvois mit Repatriierten kehren heim.
    Vor allem gefällt mir dieses Wort nicht: Konvoi, begann Sahag Șeitanian seine Rede. Ein freies Volk begibt sich in keinen Konvoi. Bloß Flüchtlinge oder Deportierte ... die von hinten angetrieben

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