Buch des Flüsterns
Sowjetrepublik Repatriierten hatten eher zu den armen Armeniern gehört, denn die Huren in den Hotels um den Bukarester Nordbahnhof, wie das Marna eines war, waren eher zweitklassig. Und zweitens: Wie die in Rumänien verbliebenen Armenier so gut wie nichts über die nach Armenien Ausgewanderten wussten, wussten auch die Ausgewanderten nicht mehr, was in Rumänien geschah. Sonst wäre eine solche Frage unsinnig gewesen, zumal die armen Frauen mittlerweile aus den Hotels hinausgeworfen worden waren, und schließlich, nachdem die von der Front und aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Soldaten auf den Bahnsteigen des Nordbahnhofs immer weniger geworden waren, hatten auch sie klein beigegeben. Und in der neuen Welt des Kommunismus, der Geschäfte, in denen man auf Punkte oder mit Bezugsscheinen die wenigen Waren erhielt, gab es kaum noch einen Platz für sie, denn von Huren, die sich mit Punkten oder Bezugsscheinen bezahlen lassen, hat man noch nicht einmal aus der gleichesten aller möglichen Welten gehört, als welche sich diese ausgab.
DIE AUFFORDERUNG, AN ORT UND STELLE ZU BLEIBEN, ODER DIE GESCHICHTE DES GUTEN HERRN BLEIBWODUBISTIAN . Vielleicht verhielten sich die Dinge doch nicht ganz so, und die Viehwaggons und die wie Ställe vollgepferchten Unterkünfte, Armut und Kälte existierten nur in Simon Șeitanians Vorstellung. Oder aber es handelte sich nur um einen Teil der Wirklichkeit, der inneren. Denn die äußere Wirklichkeit sah völlig anders aus. Davon erzählte Großvater Garabet im Kanzleisaal der armenischen Kirche von Focșani, als er die Zeitungsspalte mit den Briefen aus der Sowjetunion vorlas:
Die Überschrift, kündigte Großvater an. »Die ersten Briefe der aus Rumänien Repatriierten sind eingetroffen.« Und dann: »Die bisher eingegangenen Briefe vermelden, dass die aus Rumänien Ausgereisten in der Heimat gut empfangen wurden und die Unterbringung schnell und unter besten Bedingungen erfolgte. Die Briefschreiber unterstreichen ganz besonders den Überfluss an Lebensmitteln und die jedem zugänglichen Preise, wobei sie hinzufügen, dass selbst diese geringen Preise noch ständig sinken. Die Wohnungen, in denen die Repatriierten beherbergt werden, sind äußerst komfortabel, und die Behandlung durch die Autoritäten übersteigt alle Lobensmöglichkeiten. Die öffentlichen Parks, die Restaurants, Theater, Kinos, ja sämtliche Unterhaltungslokalitäten werden von den Repatriierten, die überall freien Eintritt genießen, bestürmt. Tag für Tag gibt es zu Ehren der Repatriierten außergewöhnliche Aufführungen.«
Was soll man dazu sagen?, fragte Anton Merzian verwundert wie immer. Und wandte sich um zu Sahag Șeitanian, der alles versucht hatte, um seinen Bruder Simon von der Ausreise abzubringen. Dieser ignorierte die Frage, nahm die Zeitung und las alles noch einmal ganz genau durch.
Das ist doch seltsam hier, sagte er. Wenn das Briefe sind, die nachhause geschickt wurden, warum heißt es dann hier, es seien Briefe aus der Sowjetunion?
Hat irgendjemand von euch je einen Brief bekommen? Habt ihr gehört, dass jemand einen Brief bekommen hat?, insistierte Anton Merzian.
Stimmt, ich habe nichts gehört, gab Arșag, der Glöckner, zu. Und was soll das heißen?
Nun, dass jemand sie liest, bevor sie hier ankommen. Wo hat man denn je von Briefen gehört, die in Zeitungen gelangen, anstatt hier im Briefkasten zu landen?
Dort eben ... in der Sowjetunion ...
Woanders als in den Zeitungen gab es lange keine Briefe. Seit über einem Jahr schon wurden die Briefe an die in Rumänien Zurückgebliebenen direkt von der Sowjetunion geschrieben. Und gelesen wurden sie nur in der Rubrik Korrespondenzen. Der anonyme Absender war überaus zufrieden, alles ging voran, wenn es vorangehen sollte, die Löhne stiegen, die Produktion stieg, die Lebensmittelberge in den Geschäften wuchsen, und wenn alles sinken musste, sank alles, nämlich die Preise, die Steuern, alles ging voran, wenn Vorangehen Pflicht war, nämlich die Sowjets, die Arbeit und der Enthusiasmus, und zurück, wenn es sich so gehörte, gingen der Imperialismus und Coca-Cola. In den Briefen, welche die Sowjetunion fleißig für Großvater Garabet schrieb, gab es keine Namen, keine Gesichter und keine Gefühle. Der Name ist der erste Defekt des Menschen, er unterscheidet einen vom anderen. Der Gesprächspartner meines Großvaters und von Sahag Șeitanian sowie all der anderen, die sich die Nachrichten über die Repatriierten anhörten, war
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