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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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unmittelbar das sowjetische Volk.
    Als die Sowjetunion sich nicht mehr darum kümmerte, Briefe zu schreiben, sondern sich damit begnügte, welche zu lesen – nun ja, mit einiger Aufmerksamkeit –, tauchten die ersten wirklichen Briefe auf. Wie es schien, kannten die Schreibenden ihre Leser und boten jedem von ihnen eine andere Möglichkeit des Verstehens an. Wie es Chöre mit Sängern für verschiedene Stimmen gibt, gibt es auch Leserchöre. Für den sowjetischen Leser waren die Briefe auf Armenisch geschrieben und kaum zugeklebt, damit er sich nicht allzu sehr aufregte, bis er sie geöffnet hatte. Hin und wieder schlich sich auch ein rumänisches Wort ein, damit auch der zuhause gebliebene Leser verstand, was zu verstehen war. So schrieb Simon für seine sukzessiven Leser, den sowjetischen und dann den rumänischen: Hier ist es sehr gut. Wir haben alles. Viele Leute besuchen uns. Beispielsweise Herr Fleisch (auf Rumänisch), der kommt etwa einmal im Monat vorbei. Herr Käse (ebenfalls Rumänisch)
etwa
einmal die Woche. Ihr müsst unbedingt auch kommen. Sucht für Anton Merzians Sohn Dicranig ein hübsches Mädchen aus, und wenn er geheiratet hat, kommt ihr unbedingt, damit wir uns alle zusammen freuen.
    Da nun Anton Merzians Sohn Dicranig damals noch ein kleiner Junge war, durfte sich der sowjetische Leser in seiner an den Ellbogen abgeschabten Uniform freuen, er wusste und verstand nichts; doch welche Traurigkeit teilte sich dem Leser in Rumänien mit, der Bescheid wusste. Andere Briefe waren ohne solches Versteckspiel geschrieben. Manchmal erinnern wir uns abends an die zuhause. Geht unbedingt demnächst mal bei Herrn Bleibwodubistian vorbei und grüßt ihn schön von uns.
    Je größer der Überfluss an Lebensmitteln bei stets geringeren Preisen wurde, je schöner die Häuser immerzu wurden, je weniger die Begeisterung zu bremsen war und je prächtiger die Konzerte zu Ehren der Repatriierten stets gerieten, umso mehr nahmen die liebenswürdig erdrückenden Hinweise auf Herrn Bleibwodubistian zu.
    Eines schönen Tages war Schluss, sowohl mit den direkt von der Sowjetunion als auch mit den in deren Namen von ihren neuen Bürgern geschriebenen Briefen. Dies geschah im Jahre 1949. Damals begannen die Deportationen unter den Repatriierten. Dann erst begriffen die Repatriierten vollends, was ihnen geschehen war. Die Sowjetunion brauchte sie nicht. Eine Diaspora war jedoch eine ständige Gefahr von außen nach innen und eine Verlockung für die im Inneren nach außen. Die Diaspora musste an einen anderen Ort geschafft werden. In Sibirien gab es genug Platz, und außen gelüstete es niemanden danach. Viele der Repatriierten wurden nach Sibirien geschickt. Und die Einheimischen, die auf die dumme Idee verfallen waren, sich mit ihnen zu verschwägern, ebenso. Weißt du schon, sie haben diesen und jenen abgeholt, flüsterten sie sich zuhause zu. Die schutzlose Person wurde abgeholt, ausgehoben, verbracht. Die Aktion hatte nur ein präzises Objekt: die flüchtige Individualität dessen, der sich unterwirft. Während der Verursacher geheim bleibt, omnipräsent, aber unsichtbar.
    Am Anfang war das Pronomen.
    Wie ein Register, das sich selbst liest und im Wind umblättert. Jeder, der seinen Namen hört, erhebt sich schweigend und mit herabhängenden Schultern, verlässt den Saal. »L« ist ein Buchstabe, der alleine nicht gelesen wird, er benötigt Untertanen. Andere Konvois, andere Züge, diesmal mit versiegelten Türen. Wieder geht es in die Wüste, doch diesmal nicht in den Sand, sondern in den Schnee. Nur der Wind ist der gleiche. Und Herr Bleibwodubistian ist vollends allein geblieben.
    Simon Șeitanian haben die Deportationen von 1949 verschont. Sie wurden eingestellt und sollten im Frühjahr 1953 wieder aufgenommen werden. Die Repatriierten bekamen bedeutungslose Gelegenheitsarbeiten. Jeder wusste, dass die Übriggebliebenen eines Tages auch deportiert werden würden. Das Warten ist aber von allen Übeln am schwersten zu ertragen. Und wieder versuchten manche zu entkommen. Machten sich auf den Weg nach Odessa und versuchten, auf die Schiffe zu schleichen und sich zwischen den Warenballen zu verbergen. Oder an die Grenze zu Rumänien zu gelangen, wo sie am schmalsten war, am Pruth oder in den Wäldern der Bukowina. Sie sollten unweigerlich jedes Mal geschnappt werden.
    Simon hatte eine Familie, er konnte nicht abhauen. Er kaufte sich eine Säge und lernte Holz schneiden. Wusste, dass ihm dies in Sibirien nützen würde.

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