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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Zum Glück starb Stalin im Frühjahr 1953. Und damit waren auch die Deportationen beendet.
    Für Onkel Simon war die Erde nicht rund. Auch war sie nicht flach wie ein Teller, wie es auf den weiten Ebenen am Fuße des Ararat-Gebirges ausgesehen hatte. Für ihn war die Erde eine Linie, die dort begann, wo seine Fußsohlen sie berührten, und bis zum Mittelpunkt der Erde reichte, wo es tiefer nicht mehr ging. Deshalb genügte ihm zu seiner Welterkenntnis zwei Fußbreit Boden, der derart an seinen Fußsohlen klebte, dass nichts mehr dazwischen passte, wie zwischen Messer und Brot.
    Für Stalin gab es auf der Welt weder einen Unterschlupf noch ein Versteck. Für ihn war sie flach wie eine Tischplatte, und er konnte mit seinem Zeigefinger bis an ihre Ränder darüber hinwegfahren. Seine Phantasien bezogen sich nicht auf die Tiefen, sondern auf die Grenzen. Und wenn sein Zeigefinger an einem Punkt dieser Tischplatte innehielt, und wenn die Grenzen sich nicht über das, was an jenem Ort geschah, hinausschieben ließen, dann mussten die Menschen dieses Ortes eben diesseits der Grenze gebracht werden. Die Diaspora ist umtriebig, schwer zu umarmen, zu erschöpft durch ihre Wanderschaften, als dass man sie verführen könnte, auch sind ihre Traumata noch zu wenig verheilt, als dass sie neue Mühsal auf sich laden könnte. Mit ihren Nostalgien, mit dem Traum, das historische Armenien wiederherzustellen, mit der Bereitschaft, sich dafür mit allen und jedem zu verbünden, wie es während des Krieges das Bataillon von General Dro getan hatte, das sich mit Deutschland gegen die Bolschewiken verbündet hatte, stellte die Diaspora für die Sowjetunion einen Unruheherd dar. Auf jener Erde, die sich flach wie ein Tischtuch ausbreitete, verstreute sich die Diaspora tröpfchengleich bis an den äußersten Rand, nach Australien, Argentinien, Äthiopien oder Kanada. Und weil man sie nicht wie Brotkrümel auf dem Tisch zusammenstreichen, in einer hohlen Hand versammeln und anschließend wegwerfen konnte, musste man diese die Wangen der Hemisphären wie Sommersprossen zeichnenden Punkte dazu überreden, sich an einem Ort zu versammeln. Da schlug Stalin vor, die Armenier zu repatriieren. Kurze Zeit nach der Kapitulation Japans hat der Oberste Sowjet der UdSSR dem »Wunsch der weltweit verstreuten Armenier sowie der Armenischen Sowjetrepublik« entsprochen und die Repatriierung der Armenier genehmigt, indem einige Erleichterungen in Aussicht gestellt wurden, etwa Grundstücke für den Hausbau, finanzielle Unterstützung durch den Staat und Steuerbefreiung, Entgegenkommen, die verspätet und dann auch nur zu geringen Teilen umgesetzt wurden. Die sowjetische Propaganda schätzte die Zahl der Rückwanderer auf etwa 300.000 Personen, aber es könnten auch nur halb so viele gewesen sein. Da beschloss Stalin, dass man die Armenier in ihr Land rufen solle. Der Prozess sollte auf dem gesamten Globus gleichzeitig beginnen und schnell abgeschlossen werden, damit diejenigen, die sich repatriieren lassen wollten, keine Zeit hätten, von den schon Repatriierten zu erfahren, welcher Terror und welches Elend sie erwarte. Trotzdem dauerte diese Aktion zwei Jahre, und so lange sind die Briefe an den Grenzen gestoppt worden, von eifrigen Beamten wieder und wieder gelesen sowie neu geschrieben und in den gleichen Umschlägen weiterbefördert worden, dabei hatte man vom ursprünglichen Text bei der erneuten Niederschrift vielfach nur die Eigennamen bewahrt. Erst als die Grüße an Herrn Bleibwodubistian zunahmen, begannen die zuhause sich Sorgen zu machen und sich zu wundern. Der vielfach mit Liebesbezeugungen und Glückwünschen bedachte, weithin bekannte Herr Bleibwodubistian hat jedoch nicht die Neugierde der dienstbeflissenen Skribenten hervorgerufen, wie alle Skribenten nahmen auch diese ihre Arbeit ernst und hielten Herrn Bleibwodubistian für eine ehrenwerte Person, der man unverzüglich und bei jeder Gelegenheit seine Empfehlungen darzubringen hatte. Eine hinreichend, ja bis zur Unterwürfigkeit geachtete Person, denn niemand traute sich, sie direkt anzusprechen, sondern immer nur über Vermittler, wie eine jenseitige Gestalt, der man sich, im Bewusstsein der eigenen Schuld, mit niedergeschlagenem Blick und geneigtem Kopfe nähert. Doch als die Repatriierungen aufhörten, als sich der Dunst über dem Meer bei Batumi und Poti nicht mehr mit dem weißen, über die Brüstung geworfenen Mehlstaub vermengte, begannen die Deportationen. Gemächlich, ohne Eile,

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