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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Grenze zwischen zwei Häfen zugebracht, der eine entfernte sich und der andere kam näher. Konstantinopel, Izmir, Trapezunt und Antakya entfernten sich ebenso wie namenlose Ufer, die Schiffen offenstanden, etwa jenes am Fuße des Musa-Gebirges, wo die französischen Schiffe angelegt hatten, um die armenischen Flüchtlinge aufzunehmen, die so lange auf den Berghängen ausgeharrt hatten. Und es näherten sich Häfen mit Häusern, die anders aussahen als die zurückgelassenen mit ihren weißen, von der Sonne verbrannten Wänden und den Flachdächern der Landstriche ohne Regen – Marseille, Piräus, Constanța und sogar sehr viel entferntere: New York, Montevideo oder Mar del Plata. Und für einige entfernte sich nun Constanța aufs Neue, und Batumi kam näher mit seinen gedrungenen und schwarzen Häusern, mit ärmlichen Docks, in denen die Fenster eingeschlagen waren wie leere Augenhöhlen oder mit schiefsitzenden Platten vernagelt. Die Annäherung an einen Hafen wird stets unruhig erwartet. Diesmal gesellte sich Verwunderung der Aufregung hinzu.
    DIE VERMEHRUNG DER BROTE . Statt in den Hafen einzulaufen, verlangsamte das gewaltige Schiff »Rassia« seine Fahrt und stellte sich quer zur Fahrtrichtung. Der Kapitän befahl alle an Deck, was jedoch nicht mehr nötig war, denn die Passagiere waren schon alle an Deck. Dann bahnten sich ein paar Seeleute, die eine zusammengerollte Plane schleppten, den Weg durch die Passagiere und blieben mitten unter der zusammengedrängten Menge stehen. Sie wiesen die Leute an, mehr Platz zu machen. Die drückten sich noch mehr aneinander, und wer ein kleines Kind dabeihatte, nahm es auf die Schultern, damit es nicht erdrückt werde oder verlorengehe.
    Russisch!, war die Stimme des Kapitäns zu vernehmen, der versuchte, die wenigen rumänischen Worte, die er kannte, aneinanderzufügen. Wer kann Russisch?
    Garabet Daglarian aus der Constanțaer Gruppe trat vor. Der Kapitän rief ihn an seine Seite und auf das Podest, auf dem er stand. Dann erhob er drohend die Stimme. Es war ziemlich heiter für einen Frühlingsmorgen auf dem Meer. Die Stimme des Kapitäns war deutlich zu hören, unverständlich zwar und abgehackt. Die Leute schauten ängstlich zu Garabet Daglarian, der verstand und verwundert den Kapitän anschaute. So kraftvoll er begonnen hatte, so unerwartet war der Redeschwall des Kapitäns abgebrochen. Nun begann er, aber sogleich war er wieder still, man hatte ihn angeschubst. Er möge lauter sprechen.
    Der Kapitän fragt, begann Daglarian und schrie nun jedes Wort heraus, ob ihr Brot und Mehl bei euch habt.
    Die Armenier, durch Massaker gegangen und Vertreibungen, das Zeichen der Heimatlosen tragend und eher gewohnt, sich unbemerkt durchzumogeln, im Flüsterton zu sprechen und bescheiden zu leben, hatten sich das laute Sprechen abgewöhnt. Sie regten sich selten auf. Je seltener andere sich ihrer erinnerten, umso besser. Auf dieser Welt war der Platz für sie zu eng geworden. Sie hatten gelernt, verhalten zu leben.
    Deshalb bereitete das Schreien Daglarian einige Mühe, so hörte er seine Stimme zum ersten Mal. Deshalb auch waren die Leute verwundert, einen der Ihren schreien zu hören, aber noch verwunderter waren sie über das, was man ihm zu sagen abverlangt hatte:
    Der Kapitän sagt, wenn ihr noch Brot und Mehl dabeihabt, sollt ihr dies hier auf diese Plane tun. Wer nicht tut, was man ihm sagt, wird bestraft werden.
    Nach einigen Augenblicken der Überraschung holte jemand einen Brotkanten hervor. Er scheute sich, ihn auf die Plane zu werfen, legte ihn sachte hin, wie eine Blume auf ein Grab. Ein anderer legte ein ganzes Brot auf die Plane, nachdem er eine möglichst saubere Stelle ausgesucht hatte. Sei es, dass er hoffte, das Brot zurückzubekommen, sei es aufgrund der selbstverständlichen Regung eines bedachten Menschen. Einen ganzen runden Brotlaib und einen Kanten. Die Menschen schauten sich schweigend an und drückten sich aneinander. Der Kapitän gab ein Zeichen, und einer der Seeleute schnappte sich einen geflochtenen Koffer. Ohne ihn zu öffnen, schlitzte er ihn mit dem Messer auf. Er wühlte in dem Durcheinander und zog ein Brot heraus, das er wie auf ein Tablett auf die flache Hand legte und zuerst dem Kapitän und dann der Menge zeigte, wie damals den Kopf von Johannes dem Täufer. Er warf es auf die Plane und wandte sich um zum Besitzer des Weidenkoffers. Dieser glaubte, er müsse jetzt etwas sagen, und stammelte etwas Unverständliches, wobei er auf seine Frau und

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