Buch des Flüsterns
aufzuklären, und diese sich ihre Antworten nicht zurechtlegen konnten.
Die Befragung dauerte bis zum Einbruch der Nacht. Dann, beim Licht einiger Öllampen, die man an den Wänden angezündet hatte, wurde ihnen gesagt, dass sie nun, endlich, essen könnten. Man gab ihnen jedoch nichts als Brot, meinte wohl, sie hätten noch etwas von zuhause dabei. Das Brot war schwarz und krümelig. Man konnte es nicht brechen, sondern musste davon abbeißen, denn sonst zerrann es einem in den Händen wie Sand. Und ebenso wie Sand knirschte es zwischen den Zähnen. Deshalb hatten sie uns gezwungen, das Brot, das wir dabeihatten, wegzuwerfen, sagte Simon zum Schluss seiner Geschichte. Wir sollten den Unterschied zwischen dem Brot, das wir hinter uns zurückließen, und jenem, das wir von nun an bekommen würden, nicht merken.
Für den Weg nach Jerewan benötigten wir etwas mehr als einen Tag, obwohl es nicht so weit entfernt lag. In den Lastwaggons setzten sich alle auf den Boden, wie sie es vermochten, und der einzige Unterschied zwischen Deportierten und den Repatriierten, eingepfercht zwischen ihrem Gepäck, schwitzend und schlaflos, bestand darin, dass die Waggons nicht versiegelt waren und die Türen während der Fahrt ein kleines Stück offen standen, damit Licht und Luft nicht nur durch die Ritzen in den Waggonwänden eindringen konnten. Hin und wieder hielt der Zug auf offenem Feld, sodass diejenigen, die es für dringend geboten hielten, zusammen aussteigen konnten, wobei sie die von zuhause mitgebrachten Hemmungen zu überwinden hatten.
Sagen wir also, Simon habe Glück gehabt. Er wurde direkt nach Jerewan zugeteilt. Seine Familie wurde zusammen mit zwei anderen Familien, insgesamt fünfzehn Personen, zeitweilig in einem Haus mit drei Zimmern untergebracht. Das Haus war baufällig und schon zu lange nicht mehr beheizt worden, als dass die Frühlingssonne es hätte aufwärmen können. Eine Weile lang fand Simon keine Arbeit. Also verkaufte er alles, was sie mitgebracht hatten: Kleidung, Stoffe ... Eines Tages gab man ihnen ein Grundstück von hundert Quadratmetern, um sich darauf ein Haus zu bauen. Sie bauten es unter größten Mühen innerhalb eines Jahres, denn Baumaterialien gab es keine, und ihr Geld reichte kaum für das Essen. Dann begann sich ihr Leben ganz langsam zu regen. Die Repatriierten wurden misstrauisch beäugt; also gingen die von überallher Eingewanderten – aus dem Libanon, aus Bulgarien, Rumänien, Griechenland oder Frankreich – aufeinander zu. Sie trafen sich im Park und erzählten sich gegenseitig von der zurückgelassenen Welt, von ihren Gesprächskreisen und Kirchen, vom Brot, das nicht ins Meer geworfen worden war. Der Park, den es auch heute noch in Jerewan gibt – unweit des Republikplatzes und jener Stelle, an der sich die gewaltige Lenin-Statue erhebt –, trug lange den Namen »Latsi bardez«, also Garten der Klagen. Mitunter traten die Nostalgien zu Zeiten und an Orten auf, an denen man am allerwenigsten damit rechnen konnte. Im Herbst 1951, die erste Runde der Deportationen nach Sibirien war beendet, und die Leute wussten nicht so recht, was sie als Nächstes zu erwarten hätten, die Rückkehr der Deportierten oder die Deportation der bisher noch Verschonten, war Johnny Răducanu 8 , damals ein dunkelhäutiges Bürschchen, dessen Stimme noch nicht vom Tabak aufgerauht war, nach Jerewan zu einem Konzert im Saal der Philharmonie eingeladen worden. Er wusste nicht, dass sich im Saal vor allem Armenier befanden, die lange Zeit in Rumänien gelebt hatten, aber er sollte es auf eine Weise erfahren, die ihm einige Verlegenheit bereitete. Als das erste höfliche Klatschen verklungen war und Johnny die letzte Feinabstimmung an seinem Kontrabass vornahm, war in der Stille plötzlich vom Balkon her auf Rumänisch eine schrille und laute Stimme zu hören, der Mann hatte die Handflächen trichterförmig um den Mund gelegt: He, Johnny, sag mal, Junge, gibt es noch Huren bei Marna? Die Unruhe zeigte an, dass eine Mehrheit im Publikum verstanden hatte, worum es ging, aber Johnny Răducanu schluckte einmal trocken und begann zu spielen, schließlich wusste er nicht, was er an diesem Ort, wo solche Vorkommnisse unvorhersehbare Folgen haben konnten, hätte tun können. Da wir nun, mehr als ein halbes Jahrhundert nach diesem Vorfall, darüber nachdenken, sind wir, Johnny und ich, zu folgenden beiden Schlussfolgerungen gelangt – wobei ihm der entscheidende Beitrag zukommt. Erstens: Die in die Armenische
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