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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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das Eiserne Kreuz.
    Mesia Khacerian hingegen hat keine Schule beendet. Er war das Kind armer Armenier, die ihn in den rumänischen und armenischen Schulen von Constanța bloß zwei, drei Volksschulklassen hatten besuchen lassen können. Danach war er Lehrling bei einem Schuster, und das ist er stets geblieben, jenseits der Ämter und Funktionen, mit denen ihn die Geschichte später ausstaffierte – Schuster. Constanța, die lebendige und umtriebige Stadt mit der bunt durchmischten Welt des Hafens, den vielen Kaufleuten, Kapitänen und Offizieren, Advokaten und Buchhaltern, die große Register mit roten und blauen Zahlentabellen führten, der Lehrerschaft des Lyzeums Mircea cel Bătrân und den Intellektuellenkreisen der Kaffeehäuser, den Redingoten- und Uniformträgern, deren Innentaschen mit Banknoten ausgepolstert waren und in denen Goldmünzen klimperten, dieses Constanța wirkte reich, vornehm und verführerisch. Und während die abendlichen Spaziergänger auf der Promenade bei Pfeifenrauch und mit weit ausholenden Gebärden die Hüte voreinander zogen und solcherart andere Redingotenträger und Inhaber gut ausgepolsterter Taschen als ihresgleichen anerkannten, empfand der schmächtige Schuster jeden Augenblick, den er, einen Sack mit den frisch besohlten Schuhen auf dem Rücken, unterwegs zu einer Kundschaft war, die sich nicht herabließ, den Blick zu heben und ihm seinen Dienst zu danken, als Demütigung.
    Mesia stellte sich keine bessere Welt vor. Er stellte sich eine rächende Welt vor. Deshalb trat er in die Kommunistische Partei ein und wurde während der Illegalität einer ihrer eifrigsten Aktivisten. Als er im Kreis Constanța zum Chef der Securitate wurde, ergoss er seinen wollüstigen Rachedurst über eine Welt, die ihn, ohne davon Kenntnis zu haben, stets gedemütigt hatte. Was umso strafwürdiger war, denn heftiger als die ätzende Missachtung, die er empfand, wenn er an der Promenade vor dem Haus des Manisalian auf den Treppenstufen saß und vornübergebeugt in die Welt schaute, schmerzte Mesia die Gleichgültigkeit dieser Leute, denen er, Mesia, nicht einmal so viel bedeutete wie eine Falte in einem Leintuch, der man immerhin die Mühe zukommen lässt, sie glattzustreichen. In seiner Rache an den Redingoten und Uniformen ging er methodisch vor, er verschwendete die Banknoten und Schatzbriefe, riss die Fußböden auf, schlug die Kacheln von den Öfen und die Fayencen von den Wänden, er durchstöberte die Schubladen und schüttelte die Bücher in den Bibliotheken durch; auf der Suche nach den Goldmünzen ließ er Tagelöhner die Gärten und Höfe umgraben und die Holzspeicher leeren, die großen Häuser ließ er räumen und warf die Eigentümer auf die Straße. Und all dies, die Räumung der Häuser, die Verhaftungen, Verhöre und Folterungen, geschah immer nur nachts. Wenn die Angst, vermengt mit Schlaftrunkenheit und Finsternis, noch größere Schrecken gebar. Zumal wenn man diesen hinkenden Mann mit den weißen Haaren sah, die ihm ansonsten einen Anflug von Rechtschaffenheit hätten verleihen können, verschärfte sich der Schrecken; sah man also Mesia, so wusste man, dass es kein Entrinnen gab. Er schaute sie sich der Reihe nach an, erfreute sich an ihrem Entsetzen, ließ sie niederknien und unterbrach sie nicht, unabhängig davon, wie lang, peinlich und selbstverständlich nutzlos ihr flehentliches Bitten war. Vor allem aber gefiel ihm der Angstschweiß, der ebenso wie Perlmutt sein eigenes Licht hatte, denn er glänzte, auch wenn es noch so dunkel war. Mesia schaute auf diesen Schweiß, wie er am Haaransatz auf der Stirn in Tropfen auftrat, an den Schläfen, wie er sich über das Gesicht ausbreitete, wie gebückte Menschen, die Kinder an der Brust oder eilig ihre Sachen zusammensuchend, ihn mit den Ärmeln wegzuwischen versuchten, ohne doch zu wissen, wie tief er in ihnen wurzelte. Es gab auch einige, die versuchten, ihm mit ihren Blicken die Stirn zu bieten, sich angesichts der durchwühlten Zimmer, der aufgeschlitzten Bettwäsche und der herausgerissenen Fußböden unbeeindruckt zu zeigen. Der Schweiß aber schlüpfte durch die Ritzen ihres Verstandes, und Mesia war hin und wieder danach, einen Tropfen davon auf die Fingerspitze zu nehmen und zu verkosten. Gewiss wären sie ihm süß vorgekommen, süß wie Honig. Aber dies ist nicht die verlorene Zeit, schwitzende Menschen unterscheiden sich voneinander, nur der Schweiß ist der gleiche.
    Manisalians Haus, auf dessen Treppenstufen er

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