Buch des Flüsterns
seinesgleichen ist es zu verdanken, dass dieses Buch gelebt worden ist, bevor es geschrieben und, vor allem, im Flüsterton gelesen wurde.
Selten nur gibt es einen schöneren Namen als diesen. Mesia bedeutet auf Armenisch das Gleiche, was es für die, die zu verstehen bereit sind, auch auf Rumänisch oder in jeder anderen Sprache der Christenheit bedeutet.
Khaci
heißt auf Armenisch Kreuz. Deshalb gehörte es sich, Mesia Khacerian Mesia des Kreuzes zu nennen. Eigentlich eine tragische Ironie, denn Mesia hat sich schon in seiner Jugend auf die Seite des Antichristen geschlagen.
Vor kurzem fand ich ein Foto von ihm. Er sitzt an einer Tischecke neben dem Bariton David Ohanesian und dem Grafiker Cik Damadian und schaut verstohlen auf Martiros Sarian, den großen Maler, der zu Besuch nach Rumänien gekommen ist. Aufmerksam und listig, die Lippen zusammengepresst. Alt, sagt man sich, denn seine Haare sind vollkommen weiß.
Und wenn schon, würde Großvater Garabet sagen, verächtlich mit der Schulter zucken und schmallippig seinen Namen aussprechen. Du kannst dich nicht nach dem weißen Haar richten, willst du entscheiden, ob er jung oder alt ist, hätten auch andere gesagt, die ihm aus dem Weg gingen. Mesias Haare sind so, seit wir ihn kennen, er ist im Gefängnis weiß geworden, als er den Tod erwartete. Der nicht zu ihm kam, aber, da er ihn mochte, sich anderen gegenüber als Rächer erwies.
Diese Geschichte, die davon handelt, was Onik Tokatlian und Mesia Khacerian miteinander verband, warum man Ersterem über dem Foto die Kerze anzündete zum Gedenken, während sämtliche Spuren des anderen aus den Fotoschachteln der alten Armenier verschwunden waren, ist eine von jenen, ohne die das
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nicht verstanden werden kann. Das stille Gebet der Männer auf dem armenischen Friedhof von Focșani, die Briefe nach Argentinien mit ihrem lakonischen Ende, die umsichtigen Blicke von Arșag beim Verlassen der Seferian-Gruft, da er den Lichtfaden wie ein Glockenseil hinter sich herzog, all dies kann man ohne die würdige Gestalt des Onik Tokatlian, Schiffskapitän mit Hochseepatent, behängt mit Auszeichnungen und Tressen, und ohne das weiße Haar von Mesia Khacerian nicht verstehen. Jeder der beiden hat auf seine Art den Tod gewählt, und der Tod hat unter ihnen gewählt, auf seine Weise liebte er sie beide.
Sie sind sich ein einziges Mal begegnet, und zwar auf der gepflasterten Allee, die von der Kommandantur des Hafens Constanța zum Ovid-Platz anstieg. Sie erkannten einander sofort, auch wenn sie sich bis dahin noch nie gesehen hatten. Mesia Khacerian, weil er Onik Tokatlian so lange schon belauerte und hasste. Und Onik Tokatlian, weil er sich so lange schon vor Mesia Khacerian hütete. Sie gingen aufeinander zu, Onik in seinem aufrechten Gang und Mesia begleitet vom Schlurfgeräusch seines Hinkebeins. Sie wechselten nur ein paar Worte, dann gingen sie auseinander, ohne sich umzusehen. Ich werde diese Worte wiedergeben, denn als geflüsterte Worte haben sie ihren Ort im
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.
Onik Tokatlian ist in Brăila geboren worden. Seine Eltern waren nach den Massakern von 1895 zur Zeit des Sultans Abdul Hamid nach Rumänien gekommen. Er bekam eine vorzügliche, jedoch strenge Erziehung, absolvierte das deutsche Lyzeum und die Schule der Marineoffiziere. Die Armenier sind ein Volk des Festlands. Von alters her betrachteten sie die Meervölker mit Misstrauen und erkühnten sich nicht, das Meer zu überqueren, es sei denn, um von einer Küste zur anderen zu gelangen. Mit Ausnahme einer kurzen Periode im Mittelalter, zur Zeit des Königreichs Kilikien, als sie sich Schiffe aus Holz bauten, mit denen sie kreuz und quer das Mittelmeer durchfuhren, hielten die Armenier das Meer eher für den Weg der Enttäuschung, der letzten Chance.
Onik Tokatlian war ein Mann des Meeres. Er durchquerte das Mittelmeer auf den Spuren seiner kilikischen Vorfahren, brachte und lud Waren in Constanța für Konstantinopel, Piräus, Triest oder Marseille. Aber in dem Augenblick, als das Meer wieder zur letzten Chance geworden war, ließ Tokatlian die Handelswege Handelswege sein und übernahm ein Schiff mit Militärtransporten für die Ostfront. Als Kommandant des Schiffes »Ardealul« beteiligte er sich an der Operation »60.000«, der Evakuierung, das heißt der Rettung rumänischer Soldaten, die auf der Krim eingeschlossen waren. Dafür erhielt er zahlreiche rumänische Auszeichnungen sowie als Zeichen deutscher Anerkennung
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