Buch des Flüsterns
Aber in dem langen Brief, den er seiner Schwester nach Buenos Aires schrieb, und den er mir reichte, damit ich ihn in den Umschlag steckte, fügte Großvater jedes Mal am Ende folgende, stets gleich lautende Zeilen an: Sag Eduard und seinen Eltern, dass wir auch dieses Jahr dort waren. Behüte ihn Gott.
Als der Pfarrer gegangen war und die anderen sich verlaufen hatten, blieb allein der Glöckner Arșag zurück. Er betrat die Gruft, blieb eine Weile drin und kam dann wieder heraus, aufmerksam um sich schauend.
Meines Wissens war in der Gruft niemand beerdigt. Der alte Seferian war vor langer Zeit schon mit seiner ganzen Familie nach Argentinien gezogen. Arșag war recht gemächlich in allem. Seine Beine bewegten sich schwerfällig beim Gehen, ebenso schlenkerten seine Arme rechts und links seines Leibes. Als wären seine Gliedmaßen mit einem Glockenseil verschnürt. So konnte ich, als er die Tür der Gruft hinter sich zuzog, eines der Seile erkennen, das seine Beweglichkeit verlangsamte: einen Lichtstrahl.
Das Licht ermutigte mich. Ich trat ein und schaute. Die Luft war kühl und unbewegt. An den Wänden kugelten die Schatten wie Wollknäuel. Ich hätte Angst haben müssen. Aber das Gesicht auf dem Foto war sanft. Ein großer Mann, aufrecht, in weißer Uniform, mit Epauletten und allerlei Tressen. Das Foto war nicht sehr groß, und den nicht eben scharfen Umrissen nach zu urteilen, musste es eilig ausgewählt worden sein, eher aufgrund seiner Bedeutung denn nach Maßgabe dessen, was es zeigte.
Im
Buch des Flüsterns
stehen oftmals Fotos anstelle der lebenden Personen. Da das zwanzigste Jahrhundert zu viele Leben allzu früh gekappt hat, gelang es den Leuten nicht immer, die Toten zuverlässig zu den Toten und die Lebenden zu den Lebenden zu rechnen. In diesem Jahrhundert hat der Tod die Menschen unverhofft ereilt und viel häufiger als jemals zuvor. Die Armenier, die in ihrem spärlich werdenden Kreis hockten, fügten immer dann, wenn einer von ihnen verschwunden war, an dessen Stelle ein Foto ein, damit der Kreis nicht vollends auseinanderfalle. Deshalb galt ihnen in ihren angestammten Gebieten, im Dreieck zwischen den Seen Van, Sevan und Urmia oder wo auch immer sie sonst umherirrten, das Foto als eine Art Vorausahnung auf den Tod.
Bilder waren für die Armenier jener Zeiten wie ein Testament oder eine Lebensversicherung. Kehrte der Mensch zurück von den Deportiertenkonvois, aus den Waisenhäusern, von den Reisen in den Bäuchen der Schiffe, wurde das Foto in Verwahrung genommen, und der lebende Mensch nahm seinen angestammten Platz unter den anderen wieder ein. Kam er nicht mehr heim, so brachte das Foto den Verschwundenen unter die Seinen zurück, wenn sich die alten und schön verzierten Schachteln an den Feiertagen öffneten. Das Foto wurde zur Entschuldigung jener, die in diesem allzu hastigen Jahrhundert davongegangen waren, ohne Abschied zu nehmen.
Die Armenier meiner Kindheit lebten mehr mit den Fotografien als unter den Menschen. Darunter auch dieses Foto auf dem armenischen Friedhof von Focșani, das auf seltsame Weise nicht bloß einen Lebenden, sondern gleichzeitig auch einen Toten vertrat. Dem der Glöckner Arșag mehr Aufmerksamkeit zukommen ließ als jedem anderen, dem zu gedenken war. Während sich bei jedem anderen Kreuz vor allem die Familienmitglieder zum Totengedenken um den Pfarrer scharten, versammelte dieses Foto sämtliche am Tag nach Karfreitag auf den Friedhof gekommenen Männer um ein nicht vorhandenes Grab.
In unserer Fotoschachtel habe ich das gleiche Foto gefunden, bloß war es etwas kleiner. So wusste ich, dass das Foto vom Friedhof von Großvater vergrößert worden war, der dabei die Kontraste etwas klarer herausgearbeitet hatte. Auf seiner Rückseite wies es eine leicht lesbare Unterschrift auf: Onik Tokatlian. Und darunter: beim Aufbruch nach Odessa, 10. April 1944.
Um jedoch die Geschichte des Mannes zu erzählen, dessen Foto auf dem armenischen Friedhof auf einem Wandbrettchen stand, und dem durch Arșags Sorge oder derer, die eben vorbeikamen, ein ewiges Licht leuchtete, müsste ich die Geschichte eines anderen Mannes hinzufügen, den man in keiner der Fotoschachteln meiner alten Kindheitsarmenier findet: Mesia Khacerian.
Auch später ist es mir nicht gelungen, ein Foto von Mesia Khacerian aus den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zu finden, trotz meiner beharrlichen Suche, denn er darf im
Buch des Flüsterns
nicht fehlen. Ihm und einigen anderen
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