Buch des Flüsterns
denn von innen verriegelt haben, wenn das Schloss außen angebracht war?
Die Tür wurde in Anwesenheit einer Kommission aufgebrochen, die aus Seiner Höchsten Heiligkeit, dem Erzbischof Husig Zohrabian, und Terenig Danelian, dem Präsidenten der Vereinigung der Armenier, bestand und von allerlei Zaungästen aus dem Hof der armenischen Kirche begleitet wurde. Sie betraten die Räume mit einiger Scheu, waren auf alles gefasst, einschließlich darauf, den totenstarren Leib von Harutiun Khântirian vorzufinden. Den sie jedoch nicht fanden. Sie hatten nicht die nötige Geduld, in sämtlichen Schlupfwinkeln nach ihm zu suchen, in den Schränken, zwischen den Akten, wo Harutiun Khântirian sich zwischen den violetten Stempeln und den Siegeln mit dem doppelköpfigen Wappen wie ein Bücherskorpion aus diesem Leben hätte hinausschleichen können. Sie fanden bloß die Übersetzung des Gedichtes
Mortua est!
von Mihai Eminescu ins Armenische, sie war mit Tinte geschrieben und wirkte so frisch, dass man hätte schwören können, die Buchstaben seien gerade eben aufs Papier gesetzt worden.
Aber welche Rolle spielt da noch ein Schloss mehr oder weniger? Wichtig ist allein, dass seitdem niemand mehr Harutiun Khântirian gesehen hat. Man munkelte, er habe sich umgebracht. An seinem Schreibtisch sitzend, habe er in einer letzten Geste den Stempel in das frische Blut getaucht, das ihm die Schläfe hinunter troff und solcherart bereit war, sich in die Pässe der Bürger einer imaginären Republik eindrucken zu lassen. Auch gab es das Gerücht, er sei in die Welt hinausgezogen, nach Osten und auf das Land zu, das ihn im Stich gelassen hatte. Wieder andere erzählten im Laufe der Zeit, dass Harutiun Khântirian doch wiederaufgetaucht sei, die Sinne zwar etwas verwirrt, außerordentlich heiter und zu Scherzen aufgelegt, habe er kaum mehr dem gewissenhaften Angestellten des realen und imaginären Konsulats geglichen. Er war Autor von Fabeln, Skizzen und Satiren sowie von allerlei Komödien geworden und starb, wie jedermann, der Sinn für Humor hat, mit beinahe hundert Jahren. Das Einzige von alledem, das tatsächlich mit dem Tod von Harutiun Khântirian zu tun hat, ist Mihai Eminescus Gedicht
Mortua est!
, das 1941 im
Armenischen Almanach
in der Diaspora erschienen ist.
Jetzt befinden wir uns aber im Jahre 1924. Harutiun Khântirian las fiebernd über die Verhandlungen hinsichtlich des Abkommens von Lausanne und suchte vergeblich nach irgendeinem Zeichen dafür, dass sich die daran beteiligten Länder an sein verlorenes Land erinnerten, und drückte ab und zu einen Stempel in den Pass eines Nansen-Bürgers, der mit der zweiten Flüchtlingswelle nach dem Griechisch-Türkischen Krieg von 1922 nach Rumänien gelangt war. Weil diese Staatenlosen zur Erlangung des Niederlassungsrechtes in Rumänien eine von der Vereinigung der Armenier auszustellende Bescheinigung über ihre ethnische Zugehörigkeit benötigten und das Konsulat im gleichen Gebäude untergebracht war, redete Khântirian sich ein, der Bittsteller habe sich nicht in der Tür geirrt, und drückte seinen immer nutzloseren, verbrauchten und violetten Stempel auf dessen Akten.
Was jedoch Drastamat Kanayan betraf, den General Dro, so hatte dieser sich nicht verirrt, er wollte tatsächlich zum Konsulat kommen. Aber der einzige Mensch, der zielgerichtet dorthin gekommen war, benötigte zu seiner Enttäuschung keinerlei Stempel. Und doch sollte sich zu seinem größten Entzücken herausstellen, dass er nicht der einzige Mensch auf der Welt war, der stur darauf beharrte, dass die Armenische Republik trotz der Besatzung, der aufgehobenen Grenzen, der ins Exil getriebenen Regierungen und der im Blut ertränkten Revolten weiterhin existierte.
Ja, mehr noch, denn nachdem Harutiun Khântirian spurlos verschwunden war, sich zwischen den Papieren verdünnisiert oder sich in den finsteren Winkeln und Nischen in den Wänden seines Büros aufgelöst hatte – etwa so wie Wasser spurlos aus einem Waschbecken verschwindet –, überlebte in General Dro auch seine Überzeugung, dass die Armenische Republik irgendwo existieren müsse und man sie finden könne, wenn man sie zu suchen verstand. Und wenn Harutiun Khântirian sich in seinem Kampf um das verlorene Armenien seines Stempels, der an der Wand fixierten Fahne und der verschnürten Aktenordner bediente, darin nur von seinem Sekretär Aram begleitet, gebrauchte General Dro wirkliche Waffen, begründete folglich die Armenische Legion, befreite
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