Buch des Flüsterns
sterben, kehrten als gebrochene Gestalten zurück, mit weichen Kieferknochen und halbblind.
Großvater Garabet, strenger Bewahrer des Geheimnisses über die Waffen von General Dro, zählt nicht zu den Helden dieser Geschichten. Und es gelang ihm auch, die anderen zu überzeugen, sich nicht zum Weggehen überreden zu lassen. Dies fiel ihm nicht leicht, vor allem bei seinem Cousin Sahag Șeitanian, der in Konstantinopel von einer Großmutter erzogen worden war, die nachts unter dem Rock Waffen für den Angriff auf die Osmanische Bank transportiert hatte. Sorgfältig versteckte Großvater die armenischen Zeitungen mit den Aufrufen zur Eingliederung in die Legion. Zu viel Blut, sagte er, und erinnerte sich wahrscheinlich an die Albträume seiner Mutter, Urgroßmutter Marian, die mit stetig fortschreitender Erblindung zunehmend mehr Blut sah, das sich auf ihrer Netzhaut von den Massakern ihrer Jugendzeit quer durch Anatolien, von Tapezunt bis nach Adana, eingeprägt hatte. Sodass sie, als sie sich aufgrund altersbedingter Ungeschicklichkeit in die Hand schnitt, von all dem Blut um sie herum nicht mehr wusste, welches ihr eigenes und welches bloß Gesicht war. Man fand sie mit glasigen Augen, zusammengekrümmt und blutleer, aber auf ihrem Antlitz hatte sich ein Ausdruck großer Ruhe eingeprägt. Wie in Badewasser war sie in ihre eigenen Phantasien eingetaucht. Zu viel Blut, sagte Großvater. Es war erst Sommer 1941, und er wusste nicht, wie recht er hatte.
Plötzlich und unerwartet war eines Tages, von Constanța her kommend, Măgârdici Musaian in unserer Stadt aufgetaucht. Sie versammelten sich in der Kirchengemeinde. Voller Begeisterung überbrachte Măgârdici ihnen die Botschaft von General Dro. Großvater zeigte sich reserviert und schaffte es, auch die anderen zur Besinnung zu rufen. Musanian fügte nichts hinzu, er schien ihn sogar zu verstehen. Sie begleiteten ihn geradewegs zum Zug, von der Kirche zum imponierenden Bahnhofsgebäude, umstanden von Kastanien und den großen Häusern der reichen armenischen und jüdischen Familien, die nunmehr vom deutschen Kommandostab besetzt waren. Dann verabschiedeten sie sich und dachten, damit wäre die Sache erledigt. Doch am nächsten Sonntag, es war der Mariensonntag, und viele Leute waren zum Beten in die Kirche gekommen, aber auch um danach beim Festmahl im Kirchhof Pilaw mit Rindfleisch zu essen, fuhr ein Militärjeep auf den Kirchhof, dem acht Soldaten in deutschen Uniformen entstiegen. Sie traten in die Kirche, und der Offizier pflanzte sich einen Schritt vor ihnen auf, nahe am Altar. Die Leute zogen sich erschrocken zurück, und Pfarrer Dagead Aslanian hielt in seiner Predigt inne. Nun nahmen die Soldaten ihre Käppis ab, und der Offizier trat zurück in die Reihe der anderen. Da er meinte, die Soldaten könnten ihn nicht verstehen, setzte Pfarrer Dagead seine Predigt fort, aber nicht an der Stelle, an der er sie unterbrochen hatte, sondern damit, dass er die Leute, selbstverständlich auf Armenisch, aufforderte, sich zu beherrschen und ihre Hoffnung auf den lieben Gott zu richten. Nun wusste er nichts mehr zu sagen, also wiederholte er noch ein
Vaterunser
und schaute die Soldaten aufmerksam an. Diese trugen den deutschen Adler mit den ausgebreiteten Flügeln auf der Brust, aber an den Armen hatten sie Bänder in den Farben der armenischen Trikolore. Und ihr Anführer, in Offiziersuniform, war niemand anderes als Tatevos Bedrosian, Geschichtslehrer und Direktor der armenischen Schule in Constanța. Und er trat vor, um dem Pfarrer, der vor dem Altar erstarrt stehen geblieben war, die Hand zu küssen. Dann wandte sich Tatevos Bedrosian um zu den Kirchenbesuchern, sprach das Gebet von der Stelle aus, an der es zwischen den zusammengepresst erstarrten Lippen des Pfarrers stecken geblieben war, zu Ende und begann, vom Vaterland zu sprechen, vom durch die Bolschewiken besetzten Land, von der heiligen Pflicht, es zu befreien, und ermahnte die Männer, dem Beispiel der Fedajin aus dem Kaukasus-Gebirge zu folgen und sich freiwillig in die Armenische Legion einzureihen. Als Beispiel führte er die sieben anderen Armenier auf, ehemalige Kriegsgefangene, nunmehr Soldaten einer seltsamen Armee mit gemischten Symbolen. Verwundert schauten die Leute mal auf den Deutschen, der armenisch sprach, mal auf den deutschen Adler auf seiner Brust und mal auf die Banderole mit der armenischen Trikolore, sie verstanden nicht und fürchteten sich deshalb. Schließlich wandte sich Tatevos
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