Buch des Todes
dass er schon zur Arbeit gegangen war?«
»Nein, das haben uns die Leute in der Bibliothek bestätigt.«
Er blieb stehen, sah sie an und dachte scharf nach.
»Aber wo ist er dann?«
»Tja, wenn wir das wüssten.«
»Verdammt«, sagte er. Er erinnerte sich noch immer nicht an alle Details des alten Falls, dabei sollten sie in seinem Kopf sein.Aber eine Sache war ihm klar. Jon Vatten war kein Wandersmann. »Ist er abgehauen?«, fragte er sich selbst.
In der Zwischenzeit war auch der Ermittler mit der Jeans wieder nach unten gekommen. Thorvald Jensen zuckte resigniert mit den Schultern. Hinter ihm ging Gro Brattberg.
»Der Vogel ist ausgeflogen«, sagte Jensen. »Aber sieh mal, was wir gefunden haben.«
Er hielt ein Notizbuch hoch und schlug eine Seite auf, auf der das Bild eines kleinen Steinhauses eingeklebt war, das beinahe wie ein englischer Landsitz aussah. Die größeren Gebäude, die dahinter zu erkennen waren, legten allerdings die Vermutung nahe, dass das Haus in einer Stadt lag.
»Was ist das?«, fragte Singsaker.
»Siehst du nicht das Schild an der Seite?«, fragte Jensen.
Singsaker studierte das Schild, das auf dem Bürgersteig stand: »The Museum of Edgar Allan Poe.«
»Was ist das für ein Buch?«, fragte er.
»Ein Notizbuch«, antwortete Jensen trocken. »Sieht aus, als hätte Vatten es als Tagebuch genutzt.Auf seinem Küchentisch liegt ein ganzer Stapel davon. Er hat da ziemlich viel seltsames Zeug notiert. Skizzen und Gedanken, ein paar philosophische Betrachtungen und irgendwelche Fakten, unter anderem über Edgar Allan Poe.Wusstest du, dass der seine Cousine geheiratet hat, Virginia, als sie gerade erst dreizehn Jahre alt war? Heute wäre das ein Fall für uns. Das meiste in dem Notizbuch ist aber der blanke Nonsens.Aber von dem Bild und aus dem, was hier steht, kann man schließen, dass er im Sommer in diesem Museum war.«
»Aha, aber im Sommer ist dort doch nichts passiert, oder? Uns interessiert, ob er vor gut einer Woche da war.«
»Stimmt. Haben wir eigentlich sein Alibi für den Tatzeitpunkt in Richmond überprüft?«
»Nein, wir wissen ja erst seit gestern Abend davon. Seit dem Anruf aus Amerika«, sagte Singsaker. Sie standen da und sahen sich nachdenklich an.
»Wisst ihr, was mich am meisten irritiert?«, fragte Jensen nach einer kurzen Pause. »Dass dieser Teufel tatsächlich abgehauen ist, obwohl wir die Möglichkeit weitestgehend ausgeschlossen haben. Sollten wir als Ermittler nicht bessere Menschenkenntnis haben?«
»Vatten ist nicht gerade ein leicht zu verstehender Mensch«, sagte Singsaker.
Der bescheidene, mitunter verzagte Jon Vatten – ein Mann, der nie verreiste und jeden Tag zur gleichen Zeit mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr – wirkte überdies auch nicht gerade wie ein verrückter Mörder, der seine Opfer häutete und ihre Köpfe mitnahm. Sollte sich nun herausstellen, dass er tatsächlich der gesuchte Täter war, wofür es immer mehr Indizien gab, zeigte das nur, dass niemand Vatten wirklich kannte. Keiner hatte es geschafft, hinter die Maske zu blicken, die diesen Wahnsinn kaschierte.
»Ist eine Fahndung rausgegeben worden?«, fragte Singsaker.
»Im ganzen Land, ja«, sagte Brattberg.
Er musterte sie. Sie sah auch müde aus. Verdammt müde. Am liebsten hätte er sie gefragt, wann sie denn in der letzten Nacht ins Bett gekommen war, aber ihm fehlte die Übung, sich um seine Chefin zu sorgen, und darum ließ er es bleiben.
»Wie sieht es mit der Pressekonferenz aus?«, fragte er.
»Ohne einen Verdächtigen in Untersuchungshaft macht eine Pressekonferenz doch wohl keinen Sinn«, erwiderte Brattberg matt. »Wir begnügen uns mit der einfachen Floskel: Keine Neuigkeiten im Fall Dahle . Das muss reichen.«
»Müssen wir die Öffentlichkeit nicht darüber informieren, dass ein mutmaßlicher Mörder auf der Flucht vor der Polizei ist?«
»Nein, Odd.Was soll die Öffentlichkeit denn bitte mit dieser Information anfangen? Das scheucht sie doch nur unnötig auf«, sagte sie scharf.
Er zuckte entwaffnend mit den Schultern und fragte:
»Und, was machen wir jetzt?«
»Wir machen in der Gunnerusbibliothek weiter. Wir müs sen noch einmal alle befragen.Voller Fokus aufVatten und darauf, ob jemand eine Ahnung hat, wo er stecken könnte. Hat er eine Hütte? Fährt er manchmal weg? Und wenn ja, wohin? Solche Dinge.«
Singsaker stellte fest, dass sie eine Möglichkeit nicht in Betracht zog.
»Wir dürfen nicht vergessen, dass Vatten beim letzten Mal, als wir ihn
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