Buch des Todes
draußen jetzt 22 Grad warm war. Für den September fast ein Rekordwert, dachte er.
Im Präsidium wollte Brattberg mit ihm sprechen.
Singsaker erzählte ihr von den Gesprächen mit Hornemann und Freud, erwähnte aber nichts von dem kleinen Ausflug der Konservatorin.
Gro Brattberg war ungeduldig.
»Und nichts Neues von Vatten?«
»Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ihn kaum einer wirklich gut kennt«, sagte er. »Aber der Diebstahl des Johannesbuches hat mich so auf Trab gehalten, dass ich nicht mit allen reden konnte. Es wäre sicher gut, noch einen Ermittler in die Bibliothek zu schicken. Eine Sache finde ich übrigens seltsam. Ich habe das Gefühl, dass die neu eingestellte Bibliothekarin, Siri Holm, mehr über Vatten weiß als die Leute, die schon seit Jahren mit ihm zusammenarbeiten.«
»Und warum haben Sie dann nicht mit ihr gesprochen?«
»Sie war noch nicht zur Arbeit gekommen. Ich wollte sie anrufen«, sagte er.
»Ja, das sollten wir genauer unter die Lupe nehmen«, sagte sie. »Vorher redest du aber noch mit den Rechtsmedizinern. Die sind bald mit der Obduktion fertig und können uns einen vorläufigen mündlichen Bericht geben. Ach, und noch eine Sache.Wir haben alle Mautpassagen überprüft, inklusive Flakk-Rørvik, und haben dabei weder für Samstag noch für Sonntag einen Jens Dahle gefunden. Sein Auto ist hingegen Freitagnachmittag und Montagmorgen auf der Fähre registriert worden, genau, wie er es gesagt hat. Mona Gran war inzwischen bei den Großeltern und hat mit den Kindern gesprochen, sie wissen, was passiert ist. Das einzigVernünftige, was sie aus ihnen herausbekommen hat, war, dass ihr Vater den ganzen Samstag über in der Hütte war.«
»Damit ist der Ehemann aus dem Spiel«, sagte Singsaker.
»Als Ehemann ist man nie vollkommen aus dem Spiel«, sagte Brattberg ironisch. »Aber du verstehst, unser Fokus rich tet sich jetzt erst einmal aufVatten.Wohin ist er verschwunden? Hat er dieses verfluchte Buch geklaut? Will er damit seine Flucht finanzieren?« Sie kochte über vor Fragen.
Er stand da und überlegte, ob er ihr doch noch etwas über Silvia Freud und diesen aufgeblasenen Akademiker im Prinsen-Hotel sagen sollte. Doch dann schob er den Gedanken beiseite. Seine Chefin hatte sicher recht. In erster Linie mussten sie sich jetzt auf Vatten konzentrieren.
25
K ittelsen, der leitende Rechtsmediziner am St. Olavs Hospital, war ein alter, gebeugter Arzt mit Sinn für Details. Er machte nie Späße, kam immer direkt zur Sache und hatte grundsätzlich keine Zeit für Small Talk. Er war ein Mann nach Hauptkommissar Singsakers Geschmack, der nur selten für einen mündlichen Bericht in Kittelsens Büro kam. Gewöhnlich reichte es ihm, den Obduktionsbericht zu lesen, wenn er im Präsidium eintraf. Kittelsen sagte in der Regel doch nur das, was im Bericht stand, und es machte keinen großen Sinn, ihn auszufragen.Aber dieser Fall war kein gewöhnlicher Fall. Hier war mit der Leiche so viel angestellt worden, dass Kittelsen bestimmt ein ganzes Buch darüber schreiben konnte.
»Kittelsen, nennen Sie mir nur die wichtigsten Punkte«, sagte Singsaker und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Arztes Platz. Das Büro lag in dem Neubau des Labortraktes der Abteilung für Pathologie und medizinische Genetik des St. Olavs Hospitals. Kittelsen passte irgendwie nicht zu der modernen Umgebung, und sein herzförmiger Schreibtisch stand in krassem Kontrast zu seinem kantigen Auftreten. Um sich ein bisschen heimisch einzurichten, hatte er die wichtigsten Sachen aus seinem alten Büro mitgenommen, darunter ein Skelett, das in der dunkelsten Ecke des Raumes stand und Singsaker skeptisch musterte.An den frisch gestrichenen Wänden hingen vergilbte anatomische Tafeln. Singsakers Blick heftete sich auf das Schaubild direkt hinter Kittelsen. Es war eine alte, schwarz-weiß gedruckte anatomische Tafel. Er konnte nicht einschätzen, wann genau dieses Bild gedruckt worden war, aber aus diesem Jahrhundert stammte es definitiv nicht. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um das Faksimile eines alten Kupferstiches. Das Bild zeigte eine Frauenleiche, die von einem Seil in sitzender Positur gehalten wurde. Die Wirbelsäule war aufrecht und gerade, und der eine Schenkel war etwas zur Seite gekippt, was man bei einer lebenden, jungen Frau durchaus als herausfordernd hätte bezeichnen können. Dem Leichnam war die komplette Haut am Rücken entfernt worden, während das Fett an den Hüften wie ein zerfetzter Lappen
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