Buch des Todes
Serientäter und fragte sich, warum ihre Gedanken diese Richtung eingeschlagen hatten. Bei dem Kurs, den sie in der Hauptstadt absolviert hatte – in erster Linie, um eine Pause von der Arbeit zu bekommen –, hatte ihr Dozent etwas gesagt, das sie nicht vergessen konnte. Einige Serientäter waren im Kindesalter Bettnässer, Tierquäler oder Feuerteufel.Aber das war weiß Gott nicht die Regel. Häufig waren sie als Kinder nicht auffälliger oder schwieriger als andere, und sie mussten nicht notwendigerweise gequält oder missbraucht worden sein. Eigentlich gab es nur eine Sache, die alle Serien täter gemeinsam hatten: Sie hatten als Kinder eine reiche Fantasiewelt, in die sie sich zurückzogen, wenn die Realität ihnen zuwider war. Und diese Fantasiewelt hat sich Stück für Stück in einen dunklen, düsteren Ort verwandelt, in der Gewalt, Unterdrückung und bestialische Handlungen an der Tagesordnung sind. Trotzdem bleibt diese Fantasiewelt immer ein Ort, an dem der zukünftige Serientäter die Kontrolle hat. Es ist der Versuch, diese Fantasien in die Realität umzusetzen, der zu den Morden führt und sie zu Tätern werden lässt.
Besonders eine Äußerung ihres Dozenten hatte sich ihr eingeprägt: »Vielleicht sind Serientäter deshalb ein so guter Stoff für Filmemacher und Schriftsteller, weil sie mit den gleichen Mitteln arbeiten. Die Tat eines Serienmörders ist die grausame Verwirklichung einer Fiktion.« Genau deshalb verband sie die Tat, in der sie gerade ermittelten, mit der düsteren Welt eines Serienmörders. Das Ganze hatte etwas Fiktives, als stammte es aus der Feder eines Autors.
Ein paar Straßen weiter bog sie nach links ab, ehe sie im Kreisverkehr am Robert-E.-Lee-Monument wieder nach rechts lenkte und über die Monument Ave aus dem Stadtkern fuhr. Sie mochte die Monument Ave. Diese Straße erinnerte sie daran, dass Richmond früher einmal Ambitionen gehabt hatte, eine wirklich bedeutende Stadt des Landes zu werden.
Die Sekretärin des Edgar-Allan-Poe-Museums hieß Megan Price, und ihre Adresse in der Canterbury Road draußen in Windsor Farms verriet Felicia Stone, dass ihr Lohn nicht die einzige Einnahmequelle der Familie sein konnte. Vermutlich war sie mit einem Arzt oder einem Rechtsanwalt verheiratet, der genug für sie beide verdiente, sodass die Arbeit im Museum für sie sozusagen eine nette Alternative zu irgendeinem ehrenamtlichen Engagement in einem Wohltätigkeitsverband war. Felicia fuhr über die Lafayette in Richtung Windsor Farms. Die meisten hätten vermutlich die Malvern Avenue genommen, aber diese Straße mied sie, wann immer es ging, um nicht an dem Haus vorbeifahren zu müssen, in dem ihr Leben zerbrochen war.
Sie hatte Megan Price nicht vorher angerufen. Ermittelte man in einem Mordfall, war es keine gute Idee, den Menschen Gelegenheit zu geben, sich vorzubereiten. Sie baute darauf, dass Mrs. Price die Order befolgt hatte, die Reynolds allen Angestellten des Museums gegeben hatte, und zu Hause geblieben war, bis die Polizei Kontakt mit ihr aufnahm. Natürlich konnten sie nicht alle gleichzeitig aufsuchen, so dass die meisten sicher bald wieder ihre normalen, alltäglichen Tätigkeiten aufnahmen. Aber allein die Tatsache, wie lange jemand wartete, bis man wieder etwas unternahm und insbesondere, was man unternahm, wenn man das Warten leid war, führte die Polizei mit etwas Glück auf eine neue Spur.
Bevor Felicia aufgebrochen war, hatte Reynolds ihr Megan Price kurz beschrieben. Bis jetzt deutete nichts darauf hin, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hatte. Felicia folgte aber der Devise, zu Anfang einer Ermittlung nichts und niemanden als unverdächtig außer Acht zu lassen. Sie hatte das einmal, als sie gemeinsam mit den Kollegen etwas trinken war und an ihrer Cola nippte, während die anderen Bier tranken, etwas flapsig zusammengefasst: »Ein Ermittler sollte vorgehen wie ein Richter, nur mit umgekehrten Vorzeichen.Alle sind schuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, und ein Alibi besagt nur, dass jemand zu diesem Zeitpunkt nicht als Täter infrage kommt, zu anderen aber durchaus.« Damals hatte nur Laubach sarkastisch in ihr Lachen eingestimmt.
Megan Price hatte für die Mordnacht ein wasserdichtes Alibi. Sie war zu Hause gewesen, hatte neben ihrem Mann geschlafen und abends zuvor Gäste gehabt, die bis Mitternacht geblieben waren.Außerdem war sie nach Reynolds’ Aussage eine ziemlich schmächtige dreiundsechzigjährige Frau. Sie hatten noch kein Täterprofil
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