Bucheckern
die Schuld auf die vielen Proteste und dann auf die ablehnende Entscheidung der Stadt schieben. Ich vermute aber, und es spricht sehr viel für meine Vermutung, dass diese Begründung nur vorgeschoben war. Die Arbeiter haben oft darüber gesprochen, unter welch unmöglichen Arbeitsbedingungen sie da schuften mussten, doch es hat sich ja keiner getraut, etwas öffentlich zu sagen. Alles wegen der Angst um den Arbeitsplatz, aber es hat ihnen dann auch nicht mehr geholfen.
›Blanco‹ war als Automobilzulieferer bekannt für seine Kunststoffteile, zeitweise sogar Marktführer. Da gab es kaum einen europäischen PKW, in dem nicht Teile von ›Blanco‹ verbaut wurden. Armaturenbretter, Türverkleidungen, alles, was für den Autobau aus irgendwelchen Plastikmischungen gepresst wurde. Doch die Maschinen damals müssen wohl schon ziemlich veraltet gewesen sein. Viel zu hoher Lärmpegel, eine Mordshitze und stechender Gestank, davon habe ich hier am Tresen immer wieder gehört.
Die Firma bekam viele Auflagen von den Behörden, wollte aber trotzdem nicht in neue Anlagen investieren. Der Chef hätte große Summen an Geld aus dem Betrieb gezogen und ins Ausland geschafft, wurde immer wieder spekuliert und kurz danach begann ja auch dieser „Gesundschrumpfungsprozess“, wie er öffentlich betitelt wurde.“
„Das hat damals ziemlich hohe Wellen geschlagen“, unterbrach Oskar Lindt den Redeschwall des Wirts. Er konnte sich denken, dass der Umsatz der Gaststätte fühlbar zurückgegangen war.
Diese Gedanken schien der Wirt zu erraten: „Auch mir ging es dann wirtschaftlich immer schlechter, aber schließlich habe ich mich mehr auf das Ausflugsgeschäft konzentriert, mit Spielplatz und so. Auch vom Schwerpunkt Bierkneipe bin ich weg und habe die Richtung „Speiserestaurant“ eingeschlagen – als Küchenmeister liegt mir das sowieso viel mehr – und mittlerweile bin ich wieder recht zufrieden mit meinem Betrieb.“
„Voll die richtige Linie, man sieht es an unseren Tellern“, lobte Paul Wellmann das Essen, aber Lindt wollte die Gelegenheit nutzen, den offensichtlich gut informierten Wirt noch etwas auszufragen: „Haben die dann irgendwann doch noch neue Kunststoffpressen angeschafft oder wie läuft das jetzt bei ›Blanco‹?“
„Ach wo“, der Wirt schüttelte den Kopf, „es kommen ja immer noch ein paar Mitarbeiter zu mir an den Stammtisch, daher weiß ich recht genau, welche Schweinereien – Entschuldigung, aber für mich ist das absolut der richtige Ausdruck – da abgingen. Nachdem die Mehrzahl der Belegschaft entlassen war, kamen die ganzen Maschinen fort. Klar, die alten Teile zur Verschrottung, dachte jeder. Aber weit gefehlt! In Rumänien haben die ein neues Unternehmen gegründet, unter anderem Namen und offiziell natürlich ohne Verbindung zum Werk hier.
Dort arbeiten diese Uraltmaschinen jetzt munter weiter und zudem verdienen die Arbeiter nur einen Bruchteil von unseren Tariflöhnen. Da kann man es sich natürlich bequem leisten, die alten Hallen da drüben leer stehen und langsam verfallen zu lassen.“
„Ist das der Bereich, den man von hier aus sehen kann?“ stellte sich Lindt etwas dumm.
„Ganz genau, da, wo vor ein paar Monaten dieser neue hohe Gitterzaun gebaut wurde. Was diese Konstruktion aber soll, darauf kann ich mir nun gar keinen Reim machen. Wer weiß, vielleicht fangen die mit der Fabrikrenovierung außen beim Zaun an. Komisch nur, dass sie in dem Bereich, wo noch gearbeitet wird, den alten maroden Zaun gelassen haben. Aber wundern, also richtig wundern, darf man sich bei dem Unternehmen über nichts mehr.“
„Wenn die Kunststoffteile im östlichen Billiglohngebiet gefertigt werden, was produziert ›Blanco‹ dann noch hier?“ Lindt wollte aus der ergiebigen Informationsquelle so viel wie möglich schöpfen und auch zu dieser Frage zeigte sich der Wirt bestens informiert:
„Metall, also Metallverarbeitung, Veredelung quasi. In den neueren Gebäuden arbeiten jede Menge hochkomplizierte Maschinen, viel Chemie ist dabei und wenig Arbeitskräfte. Mit irgendwelchen chemischen Verfahren – die Arbeiter am Stammtisch haben schon versucht, es mir zu erklären, aber das verstehe ich nun wirklich nicht – bearbeiten die da die Oberflächen von Bauteilen aus Metall.“
„Auch für die Autoindustrie?“, wollte Paul Wellmann wissen.
„Ein Teil schon, aber wenn ich recht weiß, geht auch was in die Computer- und Elektronikbranche“, antwortete der Wirt.
Lindt und Wellmann
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