Buddenbrooks
Gestalt des ehemaligen »à la mode-Kavaliers« begann, unter gewöhnlichen Umständen von der Last seiner achtzig Jahre gebeugt zu werden; heute aber stand er ganz aufrecht, mit halb geschlossenen Augen, die Mundwinkel, über denen die kurzen Spitzen seines weißen Schnurrbartes senkrecht emporstarrten, vornehm und geringschätzig gesenkt. An seiner schwarzen Sammetweste blitzten zwei Reihen von Edelsteinknöpfen …
Unweit dieser Gruppe gewahrte man Hinrich Hagenström, einen untersetzten, beleibten Herrn mit rötlichem, ergrautem Backenbart, einer dicken Uhrkette auf der blau karierten Weste und offenem Leibrock. Er stand zusammen mit seinem Kompagnon, Herrn Strunck, und grüßte den Konsul durchaus nicht.
Weiterhin hatte der Tuchhändler Benthien, ein wohlhabend aussehender Mann, eine große Anzahl anderer Herren um sich versammelt, denen er haarklein erzählte, wie es sich mit seiner Fensterscheibe begeben habe … »Ein Ziegelstein, ein halber {202} Ziegelstein, meine Herren! Krach … hindurch und dann auf eine Rolle grünen Rips … Das Pack! … Nun, es ist Sache des Staates …«
In irgend einem Winkel vernahm man unaufhörlich die Stimme des Herrn Stuht aus der Glockengießerstraße, welcher, einen schwarzen Rock über dem wollenen Hemd, sich an der Auseinandersetzung beteiligte, indem er mit entrüsteter Betonung beständig wiederholte:
»Unerhörte Infamie!« – Übrigens sagte er »Infamje«.
Johann Buddenbrook ging umher, um hier seinen alten Freund C. F. Köppen, dort den Konkurrenten desselben, Konsul Kistenmaker zu begrüßen. Er drückte dem Doktor Grabow die Hand und wechselte ein paar Worte mit dem Branddirektor Gieseke, dem Baumeister Voigt, dem Wortführer Doktor Langhals, einem Bruder des Senators, mit Kaufleuten, Lehrern und Advokaten …
Die Sitzung war nicht eröffnet, aber die Debatte war äußerst rege. Alle Herren verfluchten diesen Skribifax, diesen Redakteur, diesen Rübsam, von dem man wußte, daß er die Menge aufgewiegelt habe … und zwar wozu? Man war hier, um festzustellen, ob das ständische Prinzip in der Volksvertretung beizubehalten oder das allgemeine und gleiche Wahlrecht einzuführen sei. Der Senat hatte bereits das letztere beantragt. Was aber wollte das Volk? Es wollte den Herren an den Kragen, das war Alles. Es war, zum Teufel, die faulste Lage, in der sich die Herren jemals befunden hatten! Man umringte die Senatskommissare, um ihre Meinung zu erfahren. Man umringte auch Konsul Buddenbrook, der wissen mußte, wie Bürgermeister Oeverdieck sich zu der Sache verhielt; denn seitdem im vorigen Jahre Senator Doktor Oeverdieck, ein Schwager Konsul Justus Krögers, Senatspräsident geworden war, waren Buddenbrooks mit dem Bürgermeister verwandt, was sie in der öffentlichen Achtung beträchtlich hatte steigen lassen …
{203} Plötzlich schwoll draußen das Getöse an … Die Revolution war unter den Fenstern des Sitzungssaales angelangt! Mit einem Schlage verstummten die erregten Meinungsäußerungen hier drinnen. Man faltete, stumm vor Entsetzen, die Hände auf dem Bauch und sah einander ins Gesicht oder auf die Fenster, hinter denen sich Fäuste erhoben und ein ausgelassenes, unsinniges und betäubendes Hoh- und Höh-Geheul die Luft erfüllte. Dann jedoch, ganz überraschend, als ob die Aufständischen selbst über ihr Betragen erschrocken gewesen wären, ward es draußen ebenso still wie im Saale, und in der tiefen Lautlosigkeit, die sich über das Ganze legte, ward lediglich in der Gegend der untersten Sitzreihen, wo Lebrecht Kröger sich niedergelassen hatte, ein Wort vernehmbar, das kalt, langsam und nachdrücklich sich dem Schweigen entrang:
»Die Canaille.«
Gleich darauf that in irgend einem Winkel ein dumpfes und entrüstetes Organ den Ausspruch:
»Unerhörte Infamje!«
Und dann flatterte plötzlich die eilige, zitternde und geheimnisvolle Stimme des Tuchhändlers Benthien über die Versammlung hin …
»Meine Herren … meine Herren … hören Sie auf mich … Ich kenne das Haus … Wenn man auf den Boden steigt, so giebt es da eine Dachluke … Ich habe schon als Junge Katzen dadurch geschossen … Man kann ganz gut aufs Nachbardach klettern und sich in Sicherheit bringen …«
»Nichtswürdige Feigheit!« zischte der Makler Gosch zwischen den Zähnen. Er lehnte mit verschränkten Armen am Wortführertische und starrte, gesenkten Hauptes, mit einem grauenerregenden Blick zu den Fenstern hinüber.
»Feigheit, Herr? Wieso?
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