Buddhas kleiner Finger
ruhten auf dem Griff seines gegen den Boden gestemmten Säbels. Er schien in Gedanken versunken oder schlummernd. Plötzlich schlug er die Augen auf und drehte sich zu mir.
»Hast du eigentlich noch die Alpträume, über die du früher klagtest?«
»Nach wie vor, Wassili Iwanowitsch«, antwortete ich.
»Und spielen sie immer noch in dieser Klinik?«
»Wenn es so wäre!« sagte ich. »Träume ändern ihre Schauplätze so rasend schnell, wissen Sie. Heute nacht ging es zum Beispiel um Japan. Gestern war's wieder die Klinik. Und was das Schönste war: Dieser Folterknecht, der da immer den Chef markiert, der wollte, daß ich ausführlich zu Papier bringe, was mir hier passiert. Er brauchte das für seine Arbeit, hat er gesagt. Können Sie sich das vorstellen?«
»Klar. Warum willst du nicht auf ihn hören?«
Verblüfft sah ich Tschapajew an.
»Ist das Ihr Ernst?«
Er nickte.
»Aber wozu soll das gut sein?«
»Du hast dich doch eben beschwert, daß sich in deinen Träumen immer alles viel zu schnell ändert. Jede einförmige Tätigkeit, die du auf dich nimmst, kann da einen Festpunkt schaffen. So kriegt der Traum mehr Boden unter die Füße. Eine beßre Idee, als sich im Traum Notizen zu machen, kann man gar nicht haben.«
Ich überlegte.
»Aber wozu braucht mein Alptraum einen Festpunkt, wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als aus ihm rauszukommen?«
»Darum geht es. Rauskommen kann man nur aus etwas Handfestem.«
»Na schön. Darf ich denn alles, was mir hier widerfährt, aufschreiben?«
»Selbstverständlich.«
»Und wie darf ich Sie in meinen Aufzeichnungen nennen?«
Tschapajew lachte.
»Petka, sag mal, du träumst wohl nicht umsonst von der Klapsmühle. Denkst du, mir macht es einen Unterschied, wie ich in deinen Träumen heiße?«
»Natürlich nicht«, sagte ich und fühlte mich wie ein Idiot. »Ich hatte nur die Befürchtung, daß … Nein, irgendwas stimmt noch nicht mit meinem Kopf.«
»Nenn mich, wie du magst«, sagte Tschapajew. »Von mir aus Tschapajew.«
»Ach ja?«
»Warum nicht? Und dann schreibst du«, sagte er mit tückischem Grinsen, »daß ich einen Schnurrbart habe. Nach diesen Worten strich ich darüber hin.«
Worauf er sich mit sorgfältiger Geste über den Schnurrbart strich.
»Ich finde aber«, fuhr er fort, »du solltest diesen Ratschlag vor allem in der Realität beherzigen. Schreib in Zukunft einfach deine Träume auf – möglichst gleich, solange du dich noch an alle Einzelheiten erinnerst.«
»Die vergißt man nicht«, erwiderte ich. »Bis du zu dir kommst und merkst, daß es ein böser Traum war, erlebst du Sachen … Manchmal weiß man gar nicht mehr, was Wirklichkeit ist: die Kutsche, in der wir hier fahren, oder diese geflieste Hölle, wo einen des Nachts die Dämonen in ihren weißen Kitteln quälen.«
»Was Wirklichkeit ist!« echote Tschapajew und schloß dabei wieder die Augen. »Das wird man schwerlich entscheiden können. In Wirklichkeit gibt es keine Wirklichkeit.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, Petka. Ich kannte mal einen chinesischen Kommunisten namens Tschuang-tse. Der träumte immer wieder, er sei ein über die Wiese gaukelnder roter Schmetterling. Und wenn er erwachte, wußte er nie, träumt jetzt der Schmetterling von revolutionärer Arbeit, oder träumt der Untergrundkämpfer, zwischen Blüten umherzufliegen. Als dieser Tschuang-tse in der Mongolei wegen Sabotage verhaftet wurde, hat er auf dem Verhör zu Protokoll gegeben, er sei ja in Wirklichkeit ein träumender Schmetterling. Da aber nun Baron Jungern persönlich das Verhör führte, ein sehr verständiger Mann, konterte er mit der Frage, warum denn der Schmetterling zu den Kommunisten halte. Das tut er doch gar nicht, erwiderte der Kommunist. Was hätte ein Schmetterling sonst für einen Grund, Schädlingsarbeit zu leisten, wurde gefragt. ›Ach, wissen Sie‹, kam die Antwort, ›alles menschliche Treiben ist so abstoßend und gemein, daß es keinen Unterschied macht, auf wessen Seite man ist‹.«
»Und, was geschah mit ihm?«
»Nichts. Er wurde an die Wand gestellt und geweckt.«
»Und dann?«
Tschapajew zuckte mit den Achseln.
»Ist er weitergeflogen, nehme ich an.«
»Alles klar, Wassili Iwanowitsch«, sagte ich gedankenverloren.
Der Weg nahm noch eine Serpentine, dann öffnete sich linker Hand ein überwältigender Blick auf die Stadt. Unser Gutshaus war nur noch als gelbes Pünktchen zu entdecken, davor lag der Streifen kräftiges Grün, durch den wir vorhin so lange
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