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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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gefahren waren. Die Berghänge, die die Stadt von allen Seiten umschlossen, bildeten eine Mulde, eine Art Kelch, auf dessen Boden Altai-Widnjansk lag.
    Diese sanft und ebenmäßig zueinanderfindenden Hänge waren das eigentlich Beeindruckende an dem Panorama – weniger die Stadt, die recht unansehnlich wirkte, wie ein vom strömenden Regen in die Mulde gespülter Haufen Kehricht. Menschen waren keine zu sehen; über den Häusern hing noch ein Rest Morgendunst. Mir aber dämmerte in diesem Augenblick die überraschende Erkenntnis, daß die ganze Welt, zu der ich gehörte, am Grund solch einer gigantischen Senkgrube lag, wo irgendein obskurer Bürgerkrieg im Gang war, wo man sich gierig um diese winzigen, krüppeligen Häuschen schlug, die schräg geschnipselten Gärten, die Leinen mit bunter Wäsche, und alles nur, um sich noch fester in diesen buchstäblichen Grund des Daseins zu verkrallen. Ich dachte an den chinesischen Träumer, von dem Tschapajew erzählt hatte, und warf noch einen letzten Blick ins Tal. Im Angesicht der Welt, die da so reglos vor mir ausgebreitet lag, und des ungerührt auf sie herunterschauenden Himmels fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das Städtchen in der Grube dort unten glich den übrigen Städten dieser Erde aufs Haar. Sie alle, dachte ich, hocken in ebensolchen Gruben, die man nur nicht immer mit bloßem Auge erkennt. Alle schmoren sie in großen Kesseln über dem Höllenfeuer, das angeblich im Mittelpunkt der Erde lodern soll. Und alle sind sie nur Varianten des immergleichen Alptraums, der in keiner Weise zu beschönigen ist. Aus dem es nur ein Erwachen geben kann.
    »Und sollte es so weit kommen, daß sie dich auf die gleiche unsanfte Art aus deinen Alpträumen holen wie diesen Chinesen, Petka«, sagte Tschapajew, ohne die Augen aufzuschlagen, »wechselst du ja nur von einem Traum in den anderen. Wie du es schon eine Ewigkeit tust. In dem Moment aber, wo du begreifst, daß alles, wirklich alles, was dir geschieht, ein Traum ist, werden die Inhalte nebensächlich. Wenn du dann erwachst, erwachst du richtig. Und ein für allemal. Vorausgesetzt, du willst es.«
    »Aber warum soll alles, was mir geschieht, ein Traum sein?«
    »Weil«, sagte Tschapajew bedeutungsvoll, »weil da nun mal nichts weiter ist.«
    Die Steigung hörte auf, wir erreichten ein weitläufiges Plateau. Am Horizont, noch hinter einer Flucht von sanften Hügeln, zeichneten sich blaue, fliederfarbene und violette Bergkuppen ab, davor aber lag ein unermeßlich weites, von Gras und Blumen bewachsenes Gelände. Die Blüten wirkten eher unscheinbar und schon etwas ausgeblichen, doch waren es ihrer so viele, daß die ganze Steppe davon gelb schien, mit einem Stich ins Rötliche. Und das war so schön, daß ich Tschapajews Worte und alles übrige auf dieser Welt für eine Weile vergaß.
    Nur jenen Chinesen seltsamerweise nicht.
    Ich sah die vielen blassen Blütenpünktchen vorbeischwimmen und stellte mir diesen Schmetterling vor, wie er dort umherfliegt und sich immer wieder dabei ertappt, aus alter Gewohnheit ein regierungsfeindliches Flugblatt ans Ephedrastämmchen kleben zu wollen, und jedesmal zuckt er zusammen, wenn ihm einfällt, daß das mit den Flugblättern lange vorbei ist. Abgesehen davon, daß sie hier sowieso keiner läse.
    Kurz darauf hatte der Sinnentaumel ein jähes Ende.
    Tschapajew mußte unserem Fuhrmann irgendein Zeichen gegeben haben. Wir begannen zu rasen, und die ganze Umgebung verwischte zu bunten Streifen. Der Baschkire stand halb auf dem Bock, peitschte die Pferde erbarmungslos und stieß dabei kehlige Rufe in einer fremden Sprache hervor.
    Der Weg, den wir entlangfuhren, schien nur symbolisch zu existieren. Vielleicht wuchsen dort etwas weniger Blumen, womöglich gab es in der Mitte auch noch ein paar vage, alte Spurrinnen – insgesamt ließ er sich kaum ahnen. Dennoch rüttelte der Wagen so gut wie nicht, das Gelände war vollkommen plan. Die schwarzgekleideten Reiter am Ende unserer kleinen Kolonne scherten aus, schlossen zum Wagen auf und bildeten zwei Grüppchen zu unseren Seiten. Auf gleicher Höhe mit uns fegten sie durch die Prärie, so daß ein weiter Bogen entstand – als wären unserer Kutsche unverhofft zwei schlanke, schwarze Flügel gewachsen.
    Der Landauer mit den Geschützen, in dem Anna und Kotowski saßen, hatte gleichfalls an Tempo zugelegt und uns beinahe eingeholt. Ich sah, wie Kotowski seinen Fuhrmann von hinten mit der Gerte antippte und dann auf unseren Wagen deutete.

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