Buddhas kleiner Finger
steckte die rauchende Mauser ins Halfter zurück. »Wollen wir nicht zu zweit die Kalesche nehmen, die du Grigori gestern abgeluchst hast? Dann haben wir noch ein bißchen Zeit zu reden.«
»Gern«, antwortete ich.
»Ich habe schon anspannen lassen«, sagte Tschapajew, »Grigori und Anka fahren auf der Tatschanka.«
Mein Gesicht mußte sich verdüstert haben, denn Tschapajew lachte laut auf und hieb mir mit aller Wucht die Hand auf den Rücken.
Wir gingen hinaus auf den Hof und drängten uns durch die Menge der Soldaten bis zu den Pferdeställen. Dort herrschte die lärmende Geschäftigkeit, die für den Auszug eines Bataillons in den Kampf typisch ist und das Herz eines jeden Kavalleristen höher schlagen läßt. Die Soldaten zurrten die Sättel fest, prüften die Hufe und führten dabei muntere Gespräche – hinter dieser Munterkeit aber spürte man nüchterne Konzentration, alle Saiten in ihnen waren bis zum Äußersten gespannt. Selbst die Pferde schienen von der seelischen Verfassung ihrer Reiter angesteckt, sie tänzelten von einem Bein aufs andere, wieherten, versuchten immer wieder, die Kandare auszuspucken, und äugten mit dunklen, magnetischen Augen, in deren Winkeln eine wahnwitzige Freude zu sitzen schien, zur Seite.
Ich spürte, wie die hypnotische Wirkung der nahenden Gefahr auch auf mich übergriff. Während Tschapajew zwei Soldaten etwas erklärte, trat ich zum nächststehenden Pferd, dessen Zügel an einem in die Wand eingeschlagenen Ring hingen, und fuhr mit den Fingern durch seine Mähne. Diese Sekunde hat sich mir eingeprägt: die dichte Haarpracht unter meinen Fingern, der säuerliche Geruch des neuen Ledersattels, der Sonnenfleck vor mir an der Wand und dazu das umwerfende, mit nichts zu vergleichende Empfinden eines vollendeten, sich selbst genügenden Augenblicks von Wirklichkeit. Dies mußte gemeint sein, wenn einer davon sprach, »aus voller Brust zu atmen« und »das Leben ganz zu leben«. Zwar hielt es nur einen kurzen Moment vor – genug jedoch, um zu begreifen, daß das wahre, das echte Leben seiner Natur nach gar nicht länger währen konnte.
»Petka«, rief Tschapajew hinter mir, »komm jetzt!«
Ich tätschelte dem Pferd ein letztes Mal den Hals und ging zum Wagen – nicht ohne einen schrägen Blick zur Tatschanka hinüber, in der Anna und Kotowski bereits saßen. Anna trug eine weiße Schirmmütze mit roter Borte, dazu eine schlichte Uniformbluse, am dünnen Riemen saß ein kleines, wildledernes Halfter, blaue Reithosen mit schmaler roter Biese steckten in hohen Schnürstiefeln. Diese Montur ließ sie ungehörig jung erscheinen, sie sah aus wie ein Gymnasiast. Meinen Blick bemerkend, wandte sie sich ab.
Tschapajew saß auch schon im Wagen. Auf dem Bock hockte wieder der schweigsame Baschkire mit Spitznamen Batu, der vor langer Zeit einmal Champagner im Zug ausgeschenkt und mich neulich auf seinem sinnlosen Wachposten vor dem Heuschober beinahe auf sein Bajonett gespießt hatte. Kaum saß ich neben Tschapajew, als der Baschkire die Zügel anzog, laut mit den Lippen schmatzte und wir durch das Tor rollten.
Dicht hinter uns fuhr der Wagen mit Kotowski, Anna und den Maschinengewehren, dahinter folgten die Reiter. Wir bogen nach rechts in die Straße ein. Eigentlich war es hier keine Straße mehr, sondern ein Feldweg; unser Quartier war stadtauswärts das letzte Anwesen. Der Weg führte steil bergan und stieß bald, mit einer leichten Biegung nach rechts, auf eine Wand aus dichtem Grün.
Wir fuhren wie in einen Tunnel. Die Bäume zu beiden Seiten, deren Äste sich über dem Weg ineinander verflochten, wirkten sonderbar, wie überdimensionale Büsche. Der Tunnel wollte kein Ende nehmen, zumindest schien es mir so – wir fuhren nicht sehr schnell. Durch das Laubwerk blinzelte die Sonne, ihr Licht brach sich in den letzten Tropfen des Morgentaus; das Grün war so grell und blendend, daß ich für einen Moment jede Orientierung verlor, mir kam es so vor, als sackten wir in einen endlos tiefen grünen Brunnen. Ich mußte die Augen zu Schlitzen verengen, damit der Eindruck verging.
Die seltsame Allee hörte so abrupt auf, wie sie begonnen hatte. Der unbefestigte Weg stieg wieder an; zur Linken hin war das Gelände sanft abschüssig, rechts erhob sich eine schroffe Felswand, wunderschön in ihrer blaßlila Färbung; kleine, schüttere Bäume wuchsen aus den Ritzen. Eine Viertelstunde ungefähr fuhren wir so bergan.
Tschapajew saß mit geschlossenen Augen neben mir, die Hände
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