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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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nicht so leicht fällt zu begreifen, daß es Wachs ist. Sich die eigene Urnatur zu vergegenwärtigen ist praktisch unmöglich. Wie soll man wahrnehmen, was einem von allem Anfang an vor Augen steht? Was auch schon da war, als die Augen noch fehlten? So ist das einzige, was ein Wachs sich vor Augen führen kann, seine vorübergehende Form. Und es glaubt, diese Form machte es aus, verstehen Sie? Dabei ist die Form willkürlich – jedesmal sind Tausende und Abertausende von Zufällen an ihrem Zustandekommen beteiligt.«
    »Eine blitzsaubere Allegorie. Aber was folgt aus ihr?« fragte ich, da mir das Gespräch vom letzten Abend noch gegenwärtig war und ich daran denken mußte, wie leichtfertig er bei dieser Gelegenheit Rußlands Schicksal gegen eine Portion Kokain eingetauscht hatte. Es konnte durchaus sein, daß er den Rest des Pulvers auch noch haben wollte und das Gespräch darauf zu bringen beabsichtigte.
    »Es folgt daraus, daß der einzige Weg zur Unsterblichkeit für ein Tröpfchen Wachs darin besteht, die Vorstellung vom Tröpfchen aufzugeben und statt dessen zu begreifen: Ich bin das Wachs. Weil unser Tröpfchen aber nun einmal nichts weiter erkennen kann als die Form, betet es ein ganzes kurzes Leben lang zu seinem Wachsgott, er möge doch diese Form retten – obwohl es mit ihr im Grunde nichts zu schaffen hat. Wobei alles Wachs auf Erden zusammengenommen auch keine anderen Qualitäten hat, als jeder einzelne Wachstropfen schon in sich birgt. Verstehen Sie? Ein Tröpfchen aus dem gigantischen Ozean allen Seins ist dieser Ozean – in Tropfengröße. Aber wie soll man das einem Wachstropfen erklären, dem um nichts so bange ist wie um seine vergängliche Form? Wie diesen Gedanken in ihn hineinpflanzen? Denn es sind die Gedanken, die einen zur Erlösung führen oder ins Verderben reiten – Erlösung und Verderben sind ja auch nur Gedanken. In den ›Upanischaden‹ steht, glaube ich, der Geist sei das vor die Karre des Körpers gespannte Pferd …«
    Hier schnipste er mit den Fingern, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, und mich traf ein Blick aus kalten Augen: »Weil wir gerade bei Gespannen sind: Finden Sie nicht, daß ein halbes Döschen Kokain für ein Paar Orjoler Traber …«
    Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ließ mich zur Seite taumeln. Die neben Kotowski stehende Spirituslampe explodierte, Tisch und Generalstabskarte wurden von einer Glyzerinflut überschwemmt. Kotowski sprang von der Tischplatte. Plötzlich steckte, wie aus dem Nichts hervorgezaubert, ein Revolver in seiner Faust.
    In der Tür stand Tschapajew: grauer Uniformrock, gegürtet mit einem Portepee, Pelzmütze mit schrägem Moireband, schwarze Reithosen mit Lederbesatz und dreifacher Biese, die vernickelte Mauserpistole im Anschlag. Von seiner Brust blitzte das silberne Pentagramm (er hatte es einmal als Oktoberstern-Orden bezeichnet, das wußte ich noch), daneben baumelte ein kleiner Feldstecher.
    »Gut gesprochen, Grigori – das mit dem Wachströpfchen, meine ich«, sagte er mit heiserer Tenorstimme. »Aber was sagst du nun? Wo ist jetzt dein Ozean allen Seins?«
    Bestürzt schaute Kotowski zu der Stelle, wo eben noch die Lampe gestanden hatte. Auf der Karte breitete sich ein Riesenfettfleck aus. Zum Glück war der Lampendocht bei der Detonation erloschen – sonst hätten wir nun den schönsten Zimmerbrand gehabt.
    »Die Form, das Wachs – wer hat das alles hervorgebracht?« fragte Tschapajew düster. »Antworte!«
    »Der Geist«, erwiderte Kotowski.
    »Und wo steckt der? Zeig ihn mir.«
    »Der Geist steckt in der Lampe«, sagte Kotowski. »Hat da gesteckt. Bis eben.«
    »Und was macht er nun, wo die Lampe kaputt ist?«
    »Wozu ist er ein Geist?« gab Kotowski konsterniert zurück.
    Tschapajew schoß noch einmal. Die Kugel verwandelte das auf dem Tisch stehende Tintenfaß in einen blauen Zimmerspringbrunnen.
    Für einen Moment wurde mir schwindlig.
    Auf Kotowskis fahlen Wangenknochen zeichneten sich zwei tiefrote Flecken ab.
    »Gut«, sagte er, »ich habe verstanden. Die Lektion ist angekommen, Wassili Iwanowitsch. Sie hat gesessen.«
    »Ach, Grigori«, sagte Tschapajew in traurigem Ton, »was machst du nur für Sachen? Du darfst dir jetzt keinen Fehler mehr erlauben, das weißt du doch. Auf gar keinen Fall. Wo du hingehst, wird dir keiner mehr Lektionen erteilen. Da wird alles so sein, wie du es sagst.«
    Ohne aufzublicken, drehte Kotowski sich um und rannte aus der Scheune.
    »Wir rücken aus«, sagte Tschapajew und

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