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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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arbeitete lange, mehrere Stunden, und schaffte es doch nicht, auch nur die Hälfte von dem zu notieren, was mir einfiel. Dem Punkt, wo meine Feder das Papier berührte, entflossen Details von so schillernder Dekadenz, daß ich am Ende nicht mehr unterscheiden konnte, ob ich noch den Traum niederschrieb oder schon dabei war, über ihn zu improvisieren. Zwischendurch bekam ich Lust zu rauchen, nahm die Papirossy vom Tisch und ging hinunter auf den Hof.
    Dort herrschte ein emsiges Treiben. Ein Teil der angekommenen Soldaten formierte sich gerade; es roch streng, eine Mischung aus Stiefelwichse und Pferdeschweiß. Ich entdeckte ein kleines Militärorchester, das den Schluß des Zuges bildete: ein paar verbeulte Hörner sowie eine Riesenpauke, von einem langaufgeschossenen Jungen am Riemen gehalten, der aussah wie Peter der Große ohne Schnurrbart. Ich weiß nicht, wie es kam – der Anblick des Orchesters ließ mich unsäglich melancholisch werden.
    Das Kommando über die ganze Formation führte jener Mann mit dem Säbelschmiß im Gesicht, den ich schon vom Fenster aus gesehen hatte. Vor meinem geistigen Auge erschien der verschneite Bahnhofsvorplatz, die rotbespannte Tribüne, Tschapajew, der die Luft mit seinem gelben Stulpenhandschuh zerschnitt, und dieser Mann hier, wie er an der Brüstung stand und die monströsen, sinnlosen Phrasen, die Tschapajew auf das Karree der vollgeschneiten Frontkämpfer niederprasseln ließ, mit beifälligem Nicken quittierte. Es war Furmanow, keine Frage. Als er das Gesicht in meine Richtung drehte, tauchte ich, bevor er mich noch erkennen konnte, im Portal des Gutshauses unter.
    Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich auf das Bett und starrte zur Decke. Der kahlgeschorene, bärtige Dicke am jenseitigen Lagerfeuer kam mir in den Sinn, der, wie ich plötzlich wußte, Wolodin geheißen hatte. Ein gekachelter Raum mit am Boden festgeschraubten Badewannen tauchte aus den Tiefen meines Gedächtnisses hervor, dazu dieser Wolodin, nackig und naß, wie ein Frosch neben einer der Wannen kauernd. Gerade hatte ich das Gefühl, als müßte mir noch mehr dazu einfallen, als unten auf dem Hof die Hörner zu blasen begannen. Dumpf dröhnte die Regimentspauke, und der Chor der Weber, mir noch gewärtig von der langen nächtlichen Zugfahrt, schmetterte sein Lied:
    Die weiße Armee und der Schwarze Baron
zerren uns wieder zum Zarenthron.
Doch von der Taiga bis nach Calais
geht ihren Weg die Rote Armee!!!
    »Diese Idioten«, flüsterte ich, drehte mich zur Wand und spürte, wie Tränen hilfloser Wut und ohnmächtiger Haß auf diese Welt mich übermannten. »Gott, was sind das für Idioten! Ach, man möchte sie nicht einmal Idioten nennen, sie sind Schatten ihrer selbst. Schatten im Nebel«

8
    »Wie kamen Sie eigentlich ausgerechnet auf Schatten?« fragte Professor Kanaschnikow.
    Wolodin zerrte nervös an den Riemen, die seine Arme und Beine an die Garrotte banden und nicht nachgaben. Große Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
    »Weiß ich nicht«, sagte er. »Sie wollten doch hören, was ich in dem Moment gedacht hab. Gedacht hab ich, wenn irgendein außenstehender Beobachter dazugekommen wäre, daß der bestimmt gedacht hätte, es gab uns nicht wirklich, und wir wären bloß ein Schattenspiel, eine Täuschung im Geflacker vom Feuer, weiter nichts. Da war ein Feuer, sagte ich ja. Obwohl na ja, ich glaub, Professor, es kam auf den Beobachter an.«
     
    Das Feuer auf der Wiese begann gerade erst richtig zu brennen und gab noch nicht genügend Licht, um den Nebel zu zerstreuen und die darumsitzenden Leute sichtbar werden zu lassen. Sie erschienen als gespenstische Schatten von Erdbrocken und angekohlten Stubben, wie sie in der Nähe des Feuers lagen – auf eine unsichtbare Leinwand projiziert. Was ja, von einer gewissen, höheren Warte gesehen, stimmte. Da aber auch der letzte Neuplatoniker der Region lange vor dem XX. Parteitag aufgehört hatte, sich seines Körpers zu schämen, war im Umkreis von hundert Kilometern niemand, der zu einem solchen Schluß hätte gelangen können.
    Sagen wir es also lieber einfach: Im Halbdunkel rings um das Feuer saßen drei Dumpfbacken. Und zwar sichtlich von der Art, daß unser Neuplatoniker, einmal angenommen, er hätte den XX. Parteitag nebst all seinen weitreichenden Prophezeiungen überlebt und nunmehr den Wald verlassen, um mit Durchreisenden am Feuer zu sitzen und über den Neuplatonismus zu sprechen, dieses Ansinnen mit schweren körperlichen Schäden

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