Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
Jedenfalls heißt die Innere Mongolei nicht deshalb so, weil sie sich im Inneren der Mongolei befände. Sie liegt im Innern desjenigen, der das Nichts erschaut. Wobei der Ausdruck ›im Innern‹ hier nicht recht paßt. Und um die Mongolei geht es schon gar nicht, das ist nur so ein Name dafür. Mit Worten beschreiben zu wollen, was es mit diesem Ort auf sich hat, wäre Blödsinn. Aber glauben Sie mir das eine: Es lohnt, ihn verbindlich im Auge zu behalten. Und es gibt im Leben nichts Beßres, als dort angekommen zu sein.«
    »Und wie erschaut man das Nichts?«
    »Augen zu und durch!« sagte der Baron. »Pardon. Ich wollte nicht kalauern.«
    Ich zögerte einen Moment.
    »Darf ich ehrlich sein?«
    »Gewiß doch«, sagte der Baron.
    »Der Ort, wo wir eben waren – diese schwarze Steppe mit den Feuern, meine ich – kam mir doch recht trostlos vor. Sollte die Innere Mongolei, von der Sie reden, ähnlich geartet sein, legte ich keinen Wert darauf, dort zu landen.«
    Jungern zeigte sein Grienen.
    »Sehen Sie, Pjotr, wenn es Ihnen einfällt, in einem Varieté wie der ›Spieldose‹ einen Skandal zu provozieren, dann rechnen Sie damit, daß alle übrigen Anwesenden die Situation mehr oder weniger genauso erleben wie Sie. Und selbst das wäre zu bezweifeln. Da, wo wir gewesen sind, geht es hingegen sehr individuell zu. Dort gibt es nichts, was, wie man gemeinhin sagt, wirklich existiert. Alles hängt davon ab, wer hinschaut. Für mich zum Beispiel ist dort alles mit einem blendenden Licht übergossen. Aber was meine Männer betrifft«, Jungern deutete auf die am Feuer wuselnden kleinen Gestalten in den gelben Mützen, »die sehen dasselbe wie Sie. Beziehungsweise umgekehrt: Sie, Pjotr, haben vor sich genau das, was die Männer sehen.«
    »Wieso?«
    »Sagt Ihnen das Wort Visualisierung etwas? Dadurch, daß viele Gläubige gemeinsam einen bestimmten Gott anbeten, entsteht dieser Gott tatsächlich, und zwar exakt in der Form, in der sie ihn sich vorstellen.«
    »Das kenne ich.«
    »So läuft es auch mit allem übrigen. Die Welt, in der wir leben, ist schlicht eine kollektive Visualisierung, die anzustellen wir von Geburt an gelernt haben. Es ist im Grunde das einzige, was von Generation zu Generation überliefert wird. Wenn nur genügend Leute diese Steppe vor sich sehen, Gras, Sommerabend und so weiter, verschafft uns das die Möglichkeit, an dem Anblick teilzuhaben. Bloß, die Vergangenheit mag uns noch so viele schöne Formen vorschreiben – am Ende sieht jeder von uns im Leben doch nur ein Spiegelbild seines Geistes. Und wenn Sie rings um sich her nichts als undurchdringliche Finsternis entdecken, heißt das, Ihr eigener Innenraum ist schwarz wie die Nacht. Sie können übrigens von Glück reden, daß Sie Agnostiker sind. Was meinen Sie, wie viele Götter und Dämonen sonst Ihre Finsternis bevölkerten!«
    »Herr Baron …«, begann ich, doch Jungern unterbrach mich sogleich.
    »Sie müssen nicht denken, daß in dieser Situation für Sie etwas Erniedrigendes läge. Kaum jemand möchte zugeben, daß er aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie alle anderen Leute auch. Und es ist ja nun mal die übliche Befindlichkeit des Menschen: in pechschwarzer Nacht an einem Feuer zu hocken, welches von barmherziger Hand unterhalten wird, und zu warten, daß Hilfe kommt.«
    »Mag sein, daß Sie recht haben«, sagte ich. »Was ist dann aber die Innere Mongolei?«
    »Das ist der Ort, von wo Hilfe unterwegs ist.«
    »Ach so. Sagen Sie bloß, da waren Sie schon?«
    »Ja«, bestätigte der Baron.
    »Und sind zurückgekehrt? Wieso das denn?«
    Der Baron nickte vielsagend zu seinen Kosaken am Feuer hin.
    »Außerdem bin ich nicht wirklich zurückgekehrt. Ich bin gewissermaßen auch jetzt noch dort. Aber Sie, Pjotr, müßten nun langsam an die Rückkehr denken.«
    Ich blickte mich um.
    »Wohin, wenn ich fragen darf?«
    »Ich zeige es Ihnen.«
    Ich sah die schwere, brünierte Pistole in Jungerns Hand und zuckte unwillkürlich zusammen. Der Baron lachte.
    »Also wirklich, Pjotr, was haben Sie nur? Ein wenig mehr Vertrauen zu den Menschen wäre ganz angebracht!«
    Er fuhr mit der anderen Hand in die Kitteltasche und zog das Bündel hervor, das Tschapajew ihm gegeben hatte, wickelte es auf und zeigte mir das profane Tintenfaß mit schwarzem Deckel, das darin war.
    »Schauen Sie aufmerksam hin«, sagte er. »Den Blick nicht abwenden, bitte.«
    Mit diesen Worten schleuderte er das Fäßchen in die Luft. Als es an die zwei Meter weit geflogen war,

Weitere Kostenlose Bücher