Buddhas kleiner Finger
besonders schönes Gedicht.«
»Wieso? Mir gefällt das. Überhaupt hat mir Ihr Buch ungeheuer imponiert, Pjotr. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Was ist mit den anderen?«
»Ich weiß nicht recht, worauf Sie hinauswollen.«
»Wenn alles, was Sie zu sehen, zu fühlen und zu verstehen meinen, sich in Ihnen selbst, in Ihrem Königreich ›Ich‹ befindet, dann bedeutet das, andere sind für Sie einfach irreal, oder nicht? Meine Wenigkeit zum Beispiel?«
»Ach, Anna, glauben Sie mir«, beteuerte ich leidenschaftlich, »wenn für mich irgend etwas auf dieser Welt real ist, dann sind Sie es. Sie ahnen nicht, wie sehr ich darunter leide, daß wir beide uns so, wie soll ich sagen, so mißverstehen.«
»Das liegt an mir«, sagte Anna. »Ich habe einen wirklich fiesen Charakter.«
»Was sagen Sie da! Alles ist meine Schuld. Mit Engelsgeduld haben Sie ertragen, wie täppisch ich mich …«
»Wir sollten einander nicht in Höflichkeitsbekundungen übertrumpfen. Sagen Sie ehrlich: Bedeute ich Ihnen wirklich so viel, wie einige Ihrer Bemerkungen glauben machten?«
»Sie bedeuten mir alles«, sagte ich, und es war ehrlich.
»Also gut«, sagte Anna. »Sie hatten eine Kutschpartie vorgeschlagen? Über Land? Fahren wir.«
»Wie, jetzt gleich?«
»Warum nicht?«
Ich trat dicht vor sie hin.
»Anna, Sie können sich nicht vorstellen …«
»Bitte«, wehrte sie ab. »Nicht hier.«
Wir führen zum Tor hinaus, dann lenkte ich den Wagen nach links. Anna saß neben mir, mit einer leichten Röte auf den Wangen, und vermied es, mich anzusehen; anscheinend bereute sie schon, was wir taten. Bis zum Waldrand fuhren wir schweigend. Kaum aber hatten sich die Bögen des Laubwerks über uns geschlossen, so daß kein lüsterner Blick uns aufspüren konnte, brachte ich die Pferde zum Stehen.
»Hören Sie, Anna«, sagte ich, »Ihre Eingebung in allen Ehren, aber ich möchte nicht, daß Sie bereuen, was …«
Sie ließ mich nicht ausreden. Ihre Hände griffen in meinen Nacken, ihre Lippen verschlossen meinen Mund. Das geschah so schnell, daß ich noch redete, während sie mich schon küßte. Und mir war durchaus nicht so viel an meinem Satz gelegen, daß ich sie in ihrem Tun hätte bremsen wollen.
Ich habe den Kuß immer als eine äußerst merkwürdige Form des zwischenmenschlichen Kontakts empfunden. Soweit ich weiß, zählt er zu den Dingen, die erst mit der Zivilisation Einzug hielten – von den auf den Südseeinseln lebenden Wilden wie auch von den Einwohnern Afrikas (soweit sie noch nicht die Schwelle überschritten haben, hinter der das dem Menschen einst verhießene Paradies endgültig passé ist) weiß man zum Beispiel, daß sie sich niemals küssen. Ihre Liebe ist einfach und geradezu; vielleicht ist das Wort Liebe nicht einmal ganz passend für das, was zwischen ihnen abgeht. Im Grunde ist es die Einsamkeit, die Liebe gebiert – wenn das Objekt nämlich fehlt. Ausgerichtet ist sie nicht so sehr auf ihn oder sie wie auf ein im Geiste entworfenes Bild, das mit dem Original wenig gemein hat. Damit etwas entstehen kann, was den Namen Liebe verdient, braucht es die Fähigkeit, Schimären aufzuziehen. Jener, den Anna da gerade küßte, war durchaus nicht existent – es war der, den sie hinter den enthusiastisch aufgenommenen Versen zu sehen glaubte; wie sollte sie wissen, daß auch ich damals, als ich jenes Buch schrieb, verzweifelt auf der Suche nach ihm war. Doch mit jedem neuen Gedicht war die Überzeugung gewachsen, daß ich ihn nie finden würde, es gab ihn einfach nicht, die Worte, die er angeblich hinterlassen hatte, waren eine Fälschung, so wie die Andeutungen von Stufen, die die Babylonier einst von Sklaven in den Granit hauen ließen, um damit nachträglich die Herabkunft einer alten Gottheit zu beweisen. Nun ja: Ist dies nicht im Grunde tatsächlich der Weg, auf dem die Götter zu uns herabsteigen?
Die letzte Frage ging Anna unmittelbar an. Ich spürte das Tasten ihrer bebenden Zungenspitze; ihre Augen hinter dem halb heruntergelassenen Wimpernvorhang waren so dicht vor mir, daß ich mir vorstellen konnte, in ihren feuchten Glanz abzutauchen und für immer darin aufzugehen. Schließlich wurde die Luft knapp, und unser erster Kuß ging zu Ende. Ihr Gesicht drehte sich zur Seite, so daß ich es nun im Profil sah; sie schloß die Augen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, wie um sie zu befeuchten – all diese kleinen mimischen Bewegungen, die bei anderer Gelegenheit nicht von Belang gewesen
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