Buddhas kleiner Finger
will er das Problem noch heute in den Griff bekommen.«
»Dafür gibt es immer verschiedene Wege, wie man weiß. Man kann sich zum Beispiel einen hinter die Binde gießen, dann verschwinden alle Probleme für ein Weilchen. Ich packe sie lieber an, bevor sie mich anpacken. Der Zug geht um acht. Es ist also noch nicht zu spät. In fünf Tagen sind wir in Paris.«
»Ich bleibe.«
Kotowski sah mich gespannt an.
»Sie sind übergeschnappt, wissen Sie das?« fragte er.
»Natürlich.«
»Es wird so weit kommen, daß man Sie einlocht, alle drei, und Furmanow übernimmt das Kommando.«
»Davor habe ich keine Angst.«
»Heißt das, vor dem Knast graut Ihnen kein bißchen? Na klar, wir russischen Intellektuellen fühlen uns ja selbst in der Klapsmühle zu Hause, immer bleibt uns ein Zipfelchen geheime Freiheit à la Pushkine, darin kann man sich prima einrichten.«
Ich mußte lachen.
»Sie haben ein erstaunliches Talent, meine Gedanken laut auszusprechen, Kotowski. Das ist mir vorhin tatsächlich durch den Kopf gegangen. Die geheime Freiheit des russischen Intellektuellen, darüber könnte ich Ihnen etwas erzählen.«
»Wenn es nicht zu lange dauert, nur zu.«
»Eine höchst interessante Begebenheit, die sich ungefähr vor einem Jahr in Petersburg zutrug. Irgendwelche Sozialdemokraten aus England waren zu Besuch – natürlich schockiert von dem, was sie zu sehen bekamen – kurz und gut, der Lyrikerverband hatte ein offizielles Treffen mit ihnen organisiert, in der Bassejnaja. Alexander Block war auch dabei und hat ihnen den ganzen Abend von dieser geheimen Freiheit erzählt, auf die wir alle miteinander ein Puschkinsches Hohelied singen könnten, wie er sich ausdrückte. Es war übrigens das letzte Mal, daß ich ihn sah: ganz in Schwarz, in unglaublich düsterer Stimmung. Als er gegangen war, fragten die Engländer, die nichts von alledem kapierten, was er denn gemeint hätte mit secret freedom und so weiter. Keiner konnte es ihnen recht erklären. Da behauptete plötzlich ein Rumäne, der aus irgendeinem Grund zusammen mit den Engländern reiste, er wisse genau, wovon die Rede sei.«
»Aha«, sagte Kotowski und sah auf die Uhr.
»Keine Angst, ich bin gleich fertig. Er sagte, es gebe im Rumänischen eine analoge Redewendung, ›haz baragaz‹ oder so ähnlich, genau weiß ich es nicht mehr. Wörtlich übersetzt heißt es ›das unterirdische Lachen« Und zwar sind die Rumänen im Mittelalter häufig von irgendwelchen Nomaden überfallen worden, deshalb gruben sich ihre Bauern große Hütten, ach, ganze Häuser in die Erde, und sobald am Horizont Staubwolken auftauchten, trieben sie ihr Vieh hinein und versteckten sich dort auch selbst. Und weil die Hütten hervorragend getarnt waren, konnten die Nomaden sie nirgends finden. Die Bauern mußten da unten natürlich mucksmäuschenstill sein, und nur manchmal, wenn sie vor heimlicher Schadenfreude zu platzen drohten, hielten sie sich die Hand vor den Mund und glucksten. Geheime Freiheit bedeutet demnach, so der Rumäne, daß du zwischen stinkenden Hammeln und Ziegen hockst, den Daumen nach oben, und dir ins Fäustchen lachst. Sehen Sie, Kotowski, das war eine so präzise Beschreibung der Situation, daß ich noch am selben Abend beschloß, aus der russischen Intelligenzija auszutreten. Unter der Erde hocken und kichern, das ist nichts für mich. Es gibt keine geheime Freiheit.«
»Interessant«, sagte Kotowski. »Wirklich. Aber ich muß jetzt los.«
»Es ist besser, ich bringe Sie noch zum Tor«, sagte ich und erhob mich. »Da unten ist der Teufel los.«
»Sag ich doch.«
Ich schob den Browning in die Tasche, nahm Kotowski einen der Koffer ab und wollte ihm hinaus auf den Korridor folgen, als mich urplötzlich die merkwürdige Vorahnung beschlich, daß ich in dieses Zimmer nicht mehr zurückkehren würde. Ich blieb in der Tür stehen und warf einen letzten, aufmerksamen Blick zurück: auf die zwei Stühle, das Bett, den kleinen Tisch mit dem gebundenen Jahrgang der »Isis« von 1915. Mein Gott, und wenn es so war! dachte ich beinahe heiter. Warum auch nicht? Hatte ich nicht schon oft einem Ort für immer den Rücken gekehrt? Und was tat es, wenn ich nicht wußte, was mir bevorstand!
»Fehlt noch was?« fragte Kotowski.
»Nein, nein.«
Als wir auf die Freitreppe traten, bot sich uns ein Anblick, der an Brjullows Bild »Der letzte Tag von Pompeji« denken ließ. Nein, keine berstenden Säulen, keine den Himmel verdunkelnden Rauchwolken, nur zwei riesige
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