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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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wären, rührten mich zutiefst. Ich spürte plötzlich, daß nichts mehr zwischen uns stand, daß alles nun möglich war, und meine Hand rutschte von ihrer Schulter – die einfach so zu berühren noch vor einer Minute einer Schandtat nahegekommen wäre – ebenso selbstverständlich auf ihre Brust. Anna wand sich in meinen Armen ein bißchen, jedoch, wie ich sofort spürte, nur zu dem Zweck, daß meine Hand auf ihrem Weg keinem Hindernis begegnete.
    »Woran denken Sie gerade?« fragte sie. »Bitte ohne Umschweife.«
    »Woran ich denke?« fragte ich zurück und ließ meine Hände nun in ihren Nacken gleiten. »Daran, daß der Weg zum Gipfel der Erfüllung buchstäblich eine Art Bergsteigen ist.«
    »Nicht doch. Sie reißen ja den Haken ab. Nein, lassen Sie mich das machen. Pardon, ich habe Sie unterbrochen.«
    »Ja, eine riskante und komplizierte Bergsteigerei. Solange das ersehnte Ziel noch nicht erreicht ist, sind alle Gefühle vom Aufstieg in Anspruch genommen. Der Stein, worauf der Fuß als nächstes zu treten hat, der Strauch, in den die Hand sich krallen kann. Wie wunderschön Sie sind, Anna. Wo war ich? Ja, das Ziel verleiht alledem den letzten Sinn, doch an den einzelnen Punkten dieses Weges verliert man es ganz aus den Augen. Die Annäherung an das Ziel ist selbigem im Grunde genommen überlegen. Hat das nicht irgendeiner von diesen deutschen Opportunisten, Bärstein oder so ähnlich, gesagt: Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts?«
    »Bernstein. Wie zum Teufel kriegt man das bei Ihnen auf? Mann, wo haben Sie bloß diesen Riemen her?«
    »Anna, o mein Gott, wollen Sie, daß ich den Verstand verliere?«
    »Reden Sie ruhig weiter«, sagte sie und schaute einen Moment herauf, »aber sehen Sie es mir nach, wenn ich ein Weilchen den Mund halte.«
    »Ja also«, fuhr ich fort, nachdem ich den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen hatte, »der springende Punkt ist, daß einem das Ziel in dem Moment, wo man den Gipfel erreicht hat, abhanden kommt. Wie alle Evokationen des Geistes bekommt man es nicht zu fassen. Gewiß können Sie sich vorstellen, Anna, wie es ist, von der schönsten aller Frauen zu träumen, die Einbildung weiß sie in ihrer ganzen Vollkommenheit zu vergegenwärtigen, doch liegt man in ihren Armen, ist die Vorstellung dahin. Was einem bleibt, ist eine beschränkte Anzahl simpler, oftmals recht grobkörniger Gefühle, die noch dazu im Dunklen … O-ooh. So sehr sie das Blut auch in Wallung bringen mögen, die Schönheit, die einen noch vor kurzem lockte, ist vergangen – an ihre Stelle ist etwas getreten, dem hinterherzulaufen geradezu lächerlich wäre. Mit anderen Worten, Schönheit ist unerreichbar. Das heißt, erreichbar ist sie, trivial gesehen, schon, nur das, was der von Leidenschaft berauschte Verstand hinter ihr zu finden hoffte, existiert nicht. An sich ist Schönheit sogar … Puh, ich glaube, ich kann nicht mehr lange. Kommen Sie her. Ja, so … Ja. Ja! Ist es so gut? O mein Gott. Wie hieß noch mal richtig der Mann, der das mit der Bewegung und dem Ziel gesagt hat?«
    »Bernstein«, wisperte Anna mir ins Ohr.
    »Finden Sie nicht, daß der Gedanke genausogut auf die Liebe anzuwenden ist?«
    »Ja«, flüsterte sie und biß mich sanft ins Ohrläppchen. »Das Ziel ist nichts, Bewegung ist alles.«
    »Ja, dann bewegen Sie sich doch, um Himmels willen!«
    »Wenn Sie bitte weiterreden würden.«
    »Worüber denn?«
    »Egal. Hauptsache, Sie reden. Ich möchte Ihre Stimme hören, wenn es mir kommt.«
    »Ihr gehorsamster Diener. Wenn ich den Gedanken fortspinnen darf. Lassen Sie uns einmal all das, was eine schöne Frau dem Manne zu geben vermag, mit hundert Prozent an setzen.«
    »Sie Buchhalter!«
    »Hundert Komma null. Neunzig Prozent davon schenkt sie ihm in dem Moment, da er sie zum erstenmal sieht. Und die ganze, seit Tausenden von Jahren anhaltende Tortur geschieht um des schnöden Restes willen. Die ersten neunzig Prozent lassen sich nicht weiter auseinanderklamüsern, Schönheit ist unteilbar und undefinierbar, da kann dieser Schopenhauer erzählen, was er will. Was aber die restlichen zehn Prozent angeht, das sind bloß ein paar Nervensignale, die man vergessen könnte, wenn nicht Einbildung und Erinnerung zu Hilfe kämen. Würden Sie für einen Moment die Augen öffnen, Anna? Bitte! Ja, Einbildung und Erinnerung hatten wir gesagt. Wenn ich den Auftrag hätte, eine handfeste erotische Szene zu schreiben, würde ich mich auf ein paar Anspielungen beschränken, und der Rest

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