Buddhas kleiner Finger
Lagerfeuer und um sie herum jede Menge besoffene Weber. Aber wie sie einander auf die Schultern klopften, wie sie sich hinstellten und vor jedermanns Blicken ihre Notdurft verrichteten oder sich eine Flasche in den Rachen stemmten, wie dazwischen halbnackte Weiber kichernd über den Hof torkelten, und als Beleuchtung des Bacchanals dieses bizarre rote Flackern der Feuer – in alledem spürte man das Monströse, Unerbittliche, Unwiderrufliche, wie es die Hand nach einem ausstreckte.
Schweigend und ohne zu zögern, gingen wir zum Tor; ein paar der am Feuer sitzenden, bewaffneten Männer winkten herausfordernd, brüllten etwas, das man nicht verstand; Kotowski nestelte nervös an seiner Jackettasche. Gottlob ließen sie von uns ab, doch die letzten Meter bis zum Tor, da wir dem heillosen Getümmel die ungeschützten Rücken zukehrten, erschienen mir sehr lang. Als wir endlich auf der Straße und schon ein paar Schritte gegangen waren, blieb ich stehen. Die Straße führte in Serpentinen abwärts, sie war leer; ein paar Laternen brannten, in deren ruhigem Schein das feuchte Pflaster matt glänzte.
»Bis hierher«, sagte ich. »Viel Erfolg.«
»Ihnen das gleiche. Vielleicht sieht man sich einmal wieder, wer weiß«, erwiderte Kotowski mit seltsamem Lächeln. »Oder man hört voneinander.«
Wir gaben uns die Hand, er legte wieder die beiden Finger an die Krempe und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Straße hinunter. Ich wartete, bis sein breiter Rücken hinter der Biegung verschwunden war, und schlenderte dann zurück. Am Tor verharrte ich und spähte vorsichtig auf den Hof. Das Fenster von Tschapajews Arbeitszimmer war dunkel. Plötzlich wußte ich, warum mich das, was da vor sich ging, so beklommen machte: Irgendwie erinnerte es an die Welt des Barons Jungern. Mich noch einmal an den Feuern mit den betrunkenen Webern vorbeizuschleichen, verspürte ich nicht die geringste Lust.
Mir fiel ein, wo Tschapajew stecken konnte. Ich lief ein Stück die Mauer entlang, vierzig Meter vielleicht, und sah mich dabei gründlich um. Niemand war zu sehen. Da nahm ich Anlauf, sprang, klammerte mich am oberen Mauerrand fest, konnte mich gerade so hinaufziehen und darüberwälzen; dann sprang ich auf der anderen Seite zu Boden.
Hier war es vollkommen finster; der Schein der Lagerfeuer wurde vom Gutshaus verdeckt, das schwarz und stumm vor mir aufragte. Ich tastete mich durch die regenfeuchten Bäume bis zum abschüssigen Teil des hinteren Hofes vor, wo ich ausglitt und auf dem Rücken den Hang hinunterrutschte. Der kleine Bach plätscherte irgendwo rechter Hand; mit ausgestreckten Händen ging ich auf das Plätschern zu und sah nach wenigen Schritten das kleine Badestubenfenster zwischen den Stämmen leuchten.
»Komm rein, Petka«, rief Tschapajew, kaum daß ich angeklopft hatte.
Das Bild wie gehabt: der grobgezimmerte Tisch, darauf die bauchige Flasche mit dem Selbstgebrannten, eine Anzahl Gläser und Teller, die Petroleumlampe und ein dicker Ordner mit Papieren; dahinter Tschapajew, das weiße, bis zum Nabel aufgeknöpfte Hemd über der Hose, schon ordentlich betrunken.
»Was macht die Kunst?« fragte er.
»Mir war, als wollten Sie heute dem Problem mit den roten Webern zu Leibe rücken«, sagte ich.
»Bin gerade dabei«, sagte Tschapajew und goß Schnaps in zwei Gläser.
»Ich sehe, Kotowski kennt Sie ganz gut.«
»Stimmt. Und ich kenne ihn.«
»Er hat soeben den Nachtzug nach Paris genommen. Daß wir seinem Beispiel nicht gefolgt sind, scheint mir ein schwerer Fehler zu sein.«
Tschapajew runzelte die Stirn. Gleich darauf begann er in singendem Tonfall zu rezitieren:
»Doch in uns glüht ein Rest Verlangen
Züge verkehrn bis Ultimo
Der Geist, er flattert unbefangen
Vom Niemandsland ins Nirgendwo …«
»Noch ein Leser! Wie mir das schmeichelt«, sagte ich und merkte im selben Moment, daß das »noch« fehl am Platz war. »Hören Sie, wenn wir uns beeilen, kriegen wir den Zug vielleicht noch.«
»Was hab ich denn in Paris verloren?« fragte Tschapajew.
»Was sich hier wohl nicht mehr gewinnen läßt«, entgegnete ich trocken.
Tschapajew grinste.
»Da kannst du recht haben, Petka.«
»Wo ist übrigens Anna? Drüben im Haus ist es nicht ungefährlich.«
»Sie ist mit einem Auftrag von mir unterwegs. Wird gleich zurück sein. Alles in Ordnung mit ihr. Setz dich doch endlich. Ich warte auf dich seit Stunden – die Flasche ist schon halb leer.«
Ich setzte mich ihm gegenüber.
»Auf dein
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