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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Könnten Sie bekanntgeben, daß als nächstes der Dichter Ernenzoff revolutionäre Gedichte liest?«
    »Ernenzoff?« fragte Brussow nach.
    »Mein Parteideckname«, erläuterte ich.
    »Ach so«, nickte Brjussow, »das ist originell! Da bin ich selbst ganz Ohr.«
    »Das würde ich Ihnen nicht raten. Besser wäre, Sie verließen sofort das Lokal. Hier gibt es gleich eine kleine Schießerei.«
    Brjussow wurde blaß und nickte. Weiter fiel kein Wort. Als die Säge verklungen war und der Frackträger seinen Schuh wieder angezogen hatte, stand Brjussow auf und erklomm die Bühne.
    »Es war heute«, sprach er, »schon von der allerneuesten Kunst die Rede. Einen weiteren Beitrag zu diesem Thema entbietet uns nun der Dichter Ernenzoff« – Brjussow konnte sich nicht zurückhalten und rollte wieder mit den Augen – »hä, nicht zu verwechseln, bitteschön, mit Erika von Heidenzoff, hä, also, der Dichter Ernenzoff mit seinen revolutionären Versen hat das Wort. Bitteschön!«
    Geschwind kam er herunter, zeigte ein zerknirschtes Lächeln und hob die Hände, dann packte er Tolstoi, der sich nur schwach zur Wehr setzte, beim Kragen und zerrte ihn zum Ausgang. In diesem Moment glich er einem pensionierten Lehrer, der einen widerspenstigen, dummen Wolfshund an der Leine hinter sich herzog.
    Ich betrat die Bühne. Vorn am Rand stand noch der Samtschemel, der mir sehr zupaß kam. Ich stellte den bestiefelten Fuß darauf und blickte hinunter in den verstummten Saal. Die Gesichter, die ich erkennen konnte, verschmolzen zu einem einzigen, das liebedienernd und nichtsdestoweniger frech zu mir heraufsah, eine erstarrte Grimasse unterwürfiger Selbstzufriedenheit – es war, ganz ohne allen Zweifel, das Gesicht der alten Wucherin, von anderem Fleisch und Blut zwar, doch lebendig wie ehedem. Unweit der Bühne saß Johann Pawluchin, ein langmähniger Kretin mit Monokel; neben ihm, piroggenkauend, ein pickliges, dickes Frauenzimmer mit großen roten Schleifen in den scheckigen Haaren – anscheinend war das Madame Malinowskaja, die Theater-Kommissarin. Wie ich sie alle haßte in diesem langen Augenblick!
    Ich zog die Mauser aus dem Gürtelhalfter, hob sie über den Kopf, dann räusperte ich mich, setzte ein ausdrucksloses Gesicht auf und las, wie ich es von früher gewohnt war, ohne jede Betonung, nur mit kurzen Pausen zwischen den Quartetten, das gerade geschriebene Gedicht von dem Tschekaformular ab.
    Revolutionäres Kampfsonett
    Genossen Kämpfer! Unsere Trauer ist grenz-
enlos. Gemeuchelt wurde Genosse Ernen-
zoff. So steht unsere operative Tscheka
mit einem guten Bolschewiken weniger da.
    Die Sache war so. Er kam vom Vollstrek-
ken, und als er sich eine Zigarette ansteck-
te, zog ein konterrevolutionärer Hampelmann
seine Pistole und legte an.
    Genossen! Es dröhnte ein Schuß aus der Mau-
ser. Er traf in die Stirne. Ernenzoff sah rot.
Zerquetschen wollte er diese Laus noch.
Doch er fiel um und war mausetot.
    Genossen Kämpfer! Schließt die Reihen, Schluß mit
dem Geplärre!
Krieg dem weißen Gesindel! Wir singen den revolutionären
Terror!
    Mit diesen Worten schoß ich auf den Kronleuchter, der Schuß ging daneben.
    Doch umgehend krachte es zu meiner Rechten noch einmal, der Kronleuchter barst, und ich sah Sherbunow, neben mir kniend, sein Gewehr nachladen. Er gab noch ein paar Schüsse in den Zuschauerraum ab, wo die Leute bereits schrien, zu Boden fielen und sich hinter den Säulen versteckten, als Barbolin aus den Kulissen trat. Schwankend lief er nach vorn zum Bühnenrand, jaulte auf und schmiß eine Handgranate in den Saal. Ein grellweißer Blitz flammte auf, es donnerte gewaltig, ein Tisch kippte um; in der Stille, die darauf eintrat, hörte man ein verwundertes Stöhnen. Eine peinliche Pause entstand; um sie halbwegs zu überbrücken, schoß ich noch ein paarmal an die Decke und sah plötzlich wieder diesen seltsamen Mann in der schwarzen Bluse am Tisch sitzen, ungerührt nippte er aus seinem Glas und schien zu lächeln. Ich kam mir dämlich vor.
    Sherbunow ballerte erneut in den Saal.
    »Aufhören!« brüllte ich.
    Sherbunow murmelte etwas in seinen Bart, das klang wie »du hast mir gar nichts zu sagen«, hängte sich das Gewehr jedoch über die Schulter.
    »Wir gehen«, sagte ich, drehte mich um und ging hinter die Kulissen.
    Ein paar Leute, die dort standen, stoben bei unserem Erscheinen auseinander. Ich lief mit Sherbunow durch einen dunklen Flur, der etliche Biegungen machte, bis wir endlich auf den Hinterausgang stießen;

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