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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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sagt: ›Wieso nichts anzuziehen? Hier hängt doch alles voll. Kleid Nummer eins, Kleid Nummer zwei, guten Morgen, Petka, Kleid Nummer drei, Kleid Nummer vier …‹«
    »Im Prinzip müßte man Ihnen paar aufs Maul geben für so eine Story«, sagte ich. »Dummerweise werd ich davon ganz melancholisch. In Wirklichkeit war nämlich alles ganz anders. Anna hatte Geburtstag, und wir sind rausgefahren zum Picknick. Kotowski war schnell besoffen und ist eingeschlafen, und Tschapajew hat Anna einen Vortrag darüber gehalten, daß die Persönlichkeit für den Menschen wie eine Anzahl Kleider sei, von denen man eins nach dem anderen aus dem Schrank holt und anzieht, und je weiter der Mensch von der Realität entfernt sei, desto mehr Kleider habe er im Schrank hängen. Das war sein Geburtstagsgeschenk für Anna – nicht die Kleider, sondern der Vortrag. Anna wollte das zuerst überhaupt nicht einsehen. Sie meinte, das wäre im Prinzip alles schön und gut, beträfe sie aber nicht, sie bliebe immer sie selber und trüge nie irgendwelche Masken. Aber zu allem, was sie einwandte, hatte Tschapajew immer nur den einen Kommentar: ›Kleid Nummer eins.‹ – ›Kleid Nummer zwei.‹ – und so weiter. Verstehen Sie? Darauf stellte Anna die Frage, wer denn diese Kleider letztlich am Leibe habe, und Tschapajew meinte, derjenige existiere nicht. Und da ging Anna ein Licht auf. Sie schwieg verdutzt ein paar Sekunden und nickte dann, sah ihn an, worauf Tschapajew lächelte und sagte: ›Guten Morgen, Anna!‹ Das ist eine meiner kostbarsten Erinnerungen. Aber wozu erzähle ich Ihnen das.«
    Jener überraschende Gedanke von vorhin ließ mich immer noch grübeln. Ich sah Kotowskis seltsames Lächeln beim Abschied vor mir. Nein, es war unbegreiflich. Wie konnte er? Daß ihm etwas von dieser Bewußtseinskarte zu Ohren gekommen sein mochte, war vielleicht noch denkbar – aber die Sache mit der Tarnung? Da war er doch längst abgereist. Mir fiel ein, was Tschapajew auf meine Frage nach Kotowskis Verbleib geantwortet hatte.
    Plötzlich war mir alles sonnenklar. Nur eins hat Kotowski, dieser Schuft, nicht bedacht, sagte ich mir, während die Wut in mir hochschoß. Daß ich nämlich zu gleichem in der Lage bin. Und falls dieser zugedröhnte Pferdefuzzi aus dem Klub der geheimen Freiheit mir tatsächlich die Irrenanstalt eingebrockt hat, dann …
    »Jetzt bin ich mal dran mit Witzeerzählen«, sagte ich.
    Die in mir tobenden Gefühle schienen sich auf meinem Gesicht widerzuspiegeln, denn die beiden Männer sahen mich entsetzt an; Wolodin rückte sogar mit seinem Stuhl ein Stück von mir ab.
    »Nur nicht zu sehr aufregen, ja?« sagte Serdjuk.
    »Wollt ihr ihn hören oder nicht? Also, wie war das doch gleich? Richtig. Kotowski ist einmal einer Horde Papuas in die Hände gefallen. Und da sagen die zu ihm: ›Dich fressen wir auf, und aus deinem kahlen Skalp basteln wir uns eine schöne Trommel. Sag uns deinen letzten Wunsch.‹ Kotowski überlegt und sagt: ›Gebt mir eine Nadel.‹ Er kriegt die Nadel und sticht sich damit in den Kopf. ›Ha!‹ brüllt er. ›Hat sich was von wegen Trommel!‹«
    Mitten in mein grimmiges Lachen hinein ging die Tür auf. Sherbunows bärtiges Gesicht schaute herein, sein Blick irrte argwöhnisch im Zimmer umher und blieb an mir hängen. Ich hüstelte und rückte meinen Kragen zurecht.
    »Zum Professor.«
    »Ich komme«, sagte ich, stand auf und legte meine Plastilinkugel vorsichtig auf den mit Serdjuks Kranichen überhäuften Tisch.
     
    Professor Kanaschnikow war bester Laune.
    »Na, Pjotr! Ich denke, Sie wissen, warum ich das, was Ihnen zur letzten Sitzung passiert ist, als die totale Katharsis bezeichnet habe?«
    Ich antwortete mit einer ausweichenden Geste.
    »Schauen Sie«, fuhr er fort, »ich hatte Ihnen ja bereits erläutert, daß irregeleitete psychische Energie zu Manien und Phobien jeder erdenklichen Form gerinnen kann. Meine Methode besteht darin, eine solche Manie oder Phobie nach der ihr innewohnenden Logik zu betrachten. Sie halten sich zum Beispiel für Napoleon.«
    »Das hab ich nie behauptet.«
    »Nein, nur mal angenommen. Anstatt zu versuchen, Ihnen den Irrtum zu beweisen, anstatt Ihnen einen Insulinschock zu verpassen, sage ich: Aha. Sie sind also Napoleon. Was haben Sie denn so als nächstes vor? Wollen Sie in Ägypten landen? Die Kontinentalsperre verhängen? Oder doch lieber auf den Thron verzichten und friedlich nach Korsika in Ihr Nestchen zurückkehren? Und je nachdem, was Sie darauf

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