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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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dünnen Stahlmasten ein schwacher, flimmernder Schein. Zwei späte Passantinnen – eine bildschöne Gymnasiastin in Begleitung ihrer Gouvernante, letztere vom Umfang her einer Litfaßsäule ähnelnd – blieben neben mir stehen.
    »Look at it, Missis Brown!« juchzte das Mädchen und wies mit dem Finger auf das düstere Schiff. »This is Saint Elmo's fires!«
    »You are mistaken, Katya«, erwiderte die Gouvernante mit gedämpfter Stimme. »There is nothing saintly about this ship.« Sie warf einen schrägen Blick zu mir herüber. »Let's go«, sagte sie dann. »Standing here could be dangerous.«
    Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verscheuchen, und blätterte noch ein paar Seiten weiter:
     
    102. Wer ist der Schöpfer des Universums?
    a) Gott
b) Das Komitee der Soldatenmütter
c) Ich
d) Kotowski
    Ich legte die Blätter akkurat aufeinander und sah aus dem Fenster. Dort war der verschneite Wipfel einer Pappel zu sehen, mit einer Krähe darin. Wenn sie das Standbein wechselte, rieselte von dem Zweig, auf dem sie hockte, der Schnee. Jetzt heulte unten ein Motor auf und verscheuchte den Vogel. Mit schwerem Flügelschlag schwang er sich in die Luft und flog weg – ich blickte ihm nach, bis er zu einem schwarzen Punkt zusammengeschrumpft war, so winzig, daß er sich nur mehr ahnen ließ. Langsam wandte ich den Kopf und begegnete dem gespannten Blick des Professors.
    »Sagen Sie, wozu soll dieser Fragebogen eigentlich gut sein?« fragte ich. »Was hat er für einen Zweck?«
    »Kann ich selbst nicht genau sagen«, erwiderte der Professor. »Obwohl ein gewisser Sinn natürlich erkennbar ist. Manche Patienten sind so gewitzt, daß sie auch den erfahrenen Arzt um den Finger zu wickeln vermögen. Sagen wir, der Fragebogen ist auf den Fall hin ausgelegt, daß Napoleon zur Abwechslung mal zugibt, geisteskrank zu sein, nur um die Klinik verlassen und seine ›Hundert Tage‹ angehen zu können.«
    In den Augen des Professors blitzte etwas auf, das man als Schreck hätte deuten können; er senkte sogleich die Lider.
    »Obwohl«, sagte er und kam rasch auf mich zu, »eigentlich haben Sie recht. Ich merke gerade, daß ich Sie immer noch wie einen Kranken behandle. Anscheinend traue ich mir selber nicht ganz. Das ist furchtbar dumm, eine Berufskrankheit.«
    Er nahm mir den Fragebogen aus der Hand, riß ihn mittendurch und warf ihn in den Papierkorb.
    »Sie können packen«, sagte er und drehte sich zum Fenster. »Die Entlassungspapiere sind schon fertig. Sherbunow bringt Sie zur Bahnstation. Für den Notfall haben Sie ja meine Nummer.«
    Die dunkelblauen Baumwollhosen und der schwarze Pullover, die Sherbunow mir aushändigte, rochen nach Staub und Kleiderkammer; am meisten mißfiel mir, daß die Hosen zerknittert und mit irgend etwas bespritzt waren. Wie Sherbunow behauptete, gab es im Wirtschaftstrakt der Klinik kein einziges Bügeleisen.
    »Wir sind hier keine Wäscherei«, sagte er giftig, »und kein Kulturministerium.«
    Ich zog die hohen Schnürschuhe mit der Riffelsohle an, setzte die runde Pelzmütze auf. Der graue Lodenmantel wäre vielleicht sogar elegant gewesen, hätte ihn nicht ein Brandloch am Rücken verunziert.
    »Wird dir einer von deinen Saufkumpanen die Kippe aufgedrückt haben«, stellte Sherbunow Vermutungen an, während er eine giftgrüne Kapuzenjacke überzog.
    Derlei freche Kommentare hatte man auf Station nie von ihm zu hören bekommen. Doch sie kratzten mich wenig, klangen mir im Gegenteil wie Engelstrompeten in den Ohren, denn sie signalisierten die Freiheit. Im Grunde waren sie auch nicht frech gemeint, es war einfach Sherbunows Art, mit den Leuten zu reden. Umgangsregeln, wie ein dienstlicher Ethos sie einforderte, mußten an mir nicht mehr befolgt werden – ich war für Sherbunow kein Patient mehr und er für mich kein Pfleger. Alles, was uns zuvor verbunden hatte, war mitsamt dem weißen Kittel an einem krummen Nagel in der Wand hängengeblieben.
    »Und mein Koffer?« fragte ich.
    Er machte große Augen, so als wüßte er nicht, wovon ich redete.
    »Von einem Koffer weiß ich nichts«, sagte er. »Mußt du den Professor fragen. Hier ist dein Portemonnaie, zwanzigtausend waren drin, sieh nach.«
    »Schon gut«, sagte ich. »Auf die Wahrheit braucht man hier sowieso nicht zu hoffen.«
    »Wär ja auch noch schöner.«
    Zu streiten hatte keinen Zweck. Es war dumm gewesen, überhaupt davon anzufangen. Ich tröstete mich damit, daß es mir gelang, heimlich einen Füllfederhalter aus seiner

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