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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Jackentasche zu ziehen.
    Die Türen zur Freiheit öffneten sich so sang- und klanglos, daß ich fast enttäuscht war. Vor mir lag der leere, zugeschneite Hof, von einer Betonmauer umgeben, und genau gegenüber das große, grüne, merkwürdigerweise mit roten Sternen verzierte Metalltor. Daneben die Pförtnerloge, aus deren Schornstein schwacher Rauch aufstieg. All dies hatte ich oft genug durch das Fenster gesehen. Ich ging die Stufen hinunter und warf einen Blick zurück auf das gesichtslose weiße Klinikgebäude.
    »Sagen Sie, Sherbunow, welches Fenster gehört zu unserem Zimmer?«
    »Dritter Stock, das zweite von außen. Da, siehst du, sie winken dir.«
    Tatsächlich sah ich in dem Fenster die Umrisse zweier Männer, einer preßte die erhobene Hand gegen die Scheibe. Ich winkte zurück. Sherbunow riß mich ziemlich grob am Ärmel.
    »Komm. Du verpaßt den Zug.«
    Ich drehte mich um und ging mit ihm zum Tor.
    In der Bude des Pförtners war es eng und stickig. Der Diensthabende – er trug eine grüne Schirmmütze mit Kokarde, darauf zwei gekreuzte Gewehre – saß hinter einem Schalter; davor gab es die aus einem grüngestrichenen Eisenrohr bestehende Andeutung eines Schlagbaums. Lange studierte der Mann die Papiere, die Sherbunow ihm hingeschoben hatte; sein Blick ging einige Male zwischen mir und meinem Paßfoto hin und her, er wechselte mit Sherbunow ein paar leise Sätze, dann tat sich der Schlagbaum auf.
    »Hast du diesen Wichtigtuer gesehen«, sagte Sherbunow, als wir die Pförtnerloge verließen. »Früher hat der mal beim Abschirmdienst gearbeitet.«
    »Aha«, sagte ich, »interessanter Fall. Den hat Professor Kanaschnikow wohl auch geheilt?«
    Sherbunow warf mir einen schrägen Blick zu, sagte aber nichts.
    Vom Kliniktor weg schlängelte sich ein schmaler, verschneiter Trampelpfad zunächst durch eine Art Birkenhain und dann zehn Minuten lang übers freie Feld, bis wir wieder in ein Waldstück eintauchten. Von ein paar dicken, zwischen Stahlmasten hängenden Stromkabeln abgesehen, gab es nirgends Anzeichen von Zivilisation; die einförmigen Masten wirkten wie überdimensionale Gerippe von Rotarmisten mit Budjonnymützen. Plötzlich war der Wald zu Ende, und wir standen vor einem Bahnsteig, zu dem eine Holzstiege hinaufführte.
    Oben stand einsam und allein ein kleines Ziegelhüttchen mit träge vor sich hin qualmendem Schornstein, das der Loge des Klinikpförtners extrem ähnlich sah. Daß es die vorherrschende Architekturform in dieser für mich fremden Welt war, durfte ich mangels Überblick nur vermuten. Sherbunow trat zum Fensterchen und kaufte mir eine Fahrkarte.
    »Siehst du«, sagte er, »da kommt der Zug schon. Eine Viertelstunde bis zum Jaroslawler Bahnhof.«
    »Wunderbar«, sagte ich.
    »Und, geht's gleich ran an die Buletten?«
    Die Frage berührte mich etwas unangenehm. Aus vieler Erfahrung im Umgang mit der gemeinen Truppe wußte ich zwar, daß der ungezwungene Austausch von Intimitäten in den unteren Klassen der Gesellschaft die gleiche Funktion erfüllte wie ein Gespräch übers Wetter in den höheren. Dennoch schien mir Sherbunow mit seiner Frage allzu unverfroren die Nase in meine Privatangelegenheiten stecken zu wollen.
    »Frischfleisch hat mir nie besonders gefehlt, wenn Sie das meinen, Sherbunow.«
    »Wieso nicht?«
    »Alle Weiber sind Schlampen.«
    »Das ist wohl wahr«, sagte er und seufzte. »Aber so im allgemeinen – was hast du vor? Bißchen Geld verdienen muß ja wohl auch sein?«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Ich könnte wieder Gedichte schreiben. Oder eine Schwadron übernehmen. Man wird sehen.«
    Der Zug fuhr ein, zischend öffneten sich die Türen.
    »Na dann«, sagte Sherbunow und hielt mir seine schraubzwingenförmige Hand hin. »Okie-dokie.«
    »Leben Sie wohl«, sagte ich. »Und richten Sie bitte meinen Zimmergenossen die besten Wünsche aus!«
    Als ich seine Pranke drückte, sah ich am Handgelenk eine Tätowierung, die mir früher nie aufgefallen war: einen fahlblauen Anker, oberhalb dessen die Buchstaben BALTFLOT gerade noch zu entziffern waren – blaß und unscharf, als hätte man sie auszumerzen versucht.
    Ich betrat den Waggon und setzte mich auf eine der harten Holzbänke. Der Zug fuhr an; Sherbunows bullige Gestalt zog vor dem Abteilfenster vorbei und entschwand für immer. Erst als der Wagen das Ende des Bahnsteigs erreicht hatte, sah ich das an zwei Pfähle geschraubte Schild mit der Aufschrift LOSOWAJA.
     
    Der Twerskoi-Boulevard war beinahe genau

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