Buddhas kleiner Finger
Platz mehrere Male umrundete.
Der Panzerwagen parkte neben einem mit gekreuzten Flaggen geschmückten Bretterpodium, das einem Schafott nicht unähnlich sah. Einige Militärs standen oben und unterhielten sich; bei unserem Erscheinen applaudierten sie. Tschapajew eilte die knarrenden Stufen hinauf, und ich sah zu, daß ich hinterherkam. Mit einigen der Offiziere (einer von ihnen im gegürteten Biberpelz) wechselte Tschapajew einen flüchtigen Gruß, trat dann nach vorn an die Brüstung der Richtstatt und hob die Hand mit der gelben Stulpe, wodurch er die Menge zum Schweigen brachte.
»Jungs!« rief er mit etwas knödelnder Stimme. »Weswegen ihr hier seid, wißt ihr. Muß man nich groß palavern. Sehn wir mal, wie die Sache läuft. Werden das schon schaukeln. Wär ja gelacht, was? An der Front is kein Zuckerschlecken natürlich, is ja mal klar. Mit Däumchendrehen is da nich viel, was dachtet denn ihr.«
Mir fiel auf, wie plastisch Tschapajews Bewegungen waren: Während er sprach, drehte er sich gleichmäßig nach allen Seiten und teilte die Luft vor seiner Brust mit energischen Hieben der gelb behandschuhten Rechten. Der Sinn seiner immer hurtiger dahinfließenden Rede entglitt mir; danach zu urteilen, wie die Arbeiter die Hälse reckten, wie sie lauschten und nickten und hin und wieder zufrieden in sich hineingrinsten, schien er etwas zu sagen, was ihnen ohne weiteres einleuchtete.
Jemand zog mich am Ärmel. Erschrocken fuhr ich herum und sah einen jungen Mann vor mir stehen: klein, mit schütterem Oberlippenbärtchen, rotgefrorenen Wangen und Augen von der Farbe wäßrigen Tees, die an einem klebenblieben.
»Ff-fuh«, sagte er.
»Was?«
»Ff-fuh … Furmanow«, sagte er und streckte mir eine breite Hand mit kurzen Fingern entgegen.
»Schöner Tag heute«, erwiderte ich und preßte die Hand in meiner.
»Ich bin der Kh-kh-kommissar des Ww-weberregiments«, sagte er. »Wir haben miteinander das Vw-vergnügen. Gleich sind Sss-sie dran. Bitte ku-kurz fassen. Der T-t-transport wartet.«
»In Ordnung.«
Argwöhnisch betrachtete er meine Hände.
»Sind Sie in der Pa-pa-partei?«
Ich nickte.
»Sch-sch-schon lange?«
»Ungefähr zwei Jahre.«
Furmanow schaute zu Tschapajew hinüber.
»Ein Ha-ha-haudegen. Aber man muß auf ihn aufpassen. Ich ha-hab gehört, er üh-übertreibt öfters. Bei den Soldaten hat er einen Stein im B-b-b-b … im Brett. Sie verstehen ihn.«
Er nickte zu der stumm lauschenden Menge auf dem Platz hinunter, über die Tschapajews Worte flogen:
»Der Sache keine Schande machen! Das ist Sache! Hauptsache! Einer steht fürn andern ein, damit keiner nich nackig dasteht, nich wahr. Und was wär das fürn Krieg, wenn einem der Arsch schon vorher auf Grundeis ginge, sagt doch mal? Das sag ich euch, da beißt man sich durch, da beißt die Maus kein Faden ab, bei meinem Kommandeursbohei, und jetzt spricht zu euch der Kommissar.«
Tschapajew trat von der Brüstung zurück.
»Jetzt du, Petka«, befahl er, daß alle es hören konnten.
Ich ging nach vorn.
Es fiel einem nicht leicht, auf diese Menschen hinunterzublicken und sich vorzustellen, welch traurige Geschicke ihrer harrten. Man betrog sie wieder einmal, wie sie von Kindesbeinen an betrogen worden waren, und so blieb für sie alles beim alten; aber daß der Betrug – damals wie heute – so plump, so possenhaft primitiv vonstatten ging, sprach jeder Menschlichkeit hohn. Die Gefühle und Gedanken derer, die da unten standen, waren so ärmlich wie die Fetzen, die sie am Leib trugen, mit ihnen gingen sie, eskortiert von einer dümmlichen Zirkusnummer dahergelaufener Leute, in den Tod. Aber, so dachte ich weiter, unterschied sich meine Lage denn von der ihren? War ich, da ich die wahre Natur der mein Leben obwaltenden Mächte genauso wenig begriff wie sie (oder, schlimmer noch, sie zu begreifen mir einbildete), um einen Deut besser dran als diese besoffenen Proleten, die man für die Parole von der »Internationale« sterben schickte? Nur weil ich Hegel und Herzen und irgendeinen Hölderlin las? Lächerlich.
Etwas sagen mußte ich gleichwohl.
»Genossen Arbeiter!« grölte ich. »Euer Kommissar, Genosse Furmanow, hat darum gebeten, daß ich mich kurz fasse, denn der Transport steht bereit. Ich denke, wir werden noch Zeit zum Reden haben, jetzt möchte ich euch bloß sagen, daß mir das Herz in Flammen steht. Heute, Genossen, habe ich Lenin gesehen! Hurra!«
Ein einziges, langanhaltendes Dröhnen legte sich über den Platz. Als der Lärm
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