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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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breit und kräftig, die Oberschenkel recht schmal. Ihre Augen waren leicht angeschnitten, was ihr nur noch mehr Anmut verlieh.
    Kein Zweifel, sie war von vollkommener Schönheit – nur daß diese Schönheit nicht viel Weibliches an sich hatte. Selbst meine erhitzte Phantasie wußte diese Augen, dieses Gesicht, diese Schultern nicht in dem schwülen Dunkel eines Alkovens unterzubringen. Nicht zu gebrauchen für die gonorrhoischen Buninschen Heuschober, o nein! Auf der Eisbahn dagegen konnte man sie sich gut vorstellen. Ihre Schönheit barg etwas Ernüchterndes, sie erschien schlicht und ein wenig traurig; nicht jene ausgestellte, laszive Keuschheit war an ihr, die einem schon im Petersburg der Vorkriegsjahre zuwider gewesen war – nein, dies hier war die echte, natürliche, von sich überzeugte Vollkommenheit, neben der jede Art von Wollust so öd und fad erschien wie der Patriotismus eines Schutzmanns.
    Sie sah mich an und wandte sich dann zu Tschapajew um, wobei eine Perle an ihrem bloßen Hals mich anblitzte.
    »Das ist also unser neuer Kommissar?« fragte sie.
    Ihre Stimme klang ein wenig dumpf, aber angenehm. Tschapajew nickte.
    »Macht euch bekannt«, sagte er. »Pjotr. Anna.«
    Ich stand vom Tisch auf, nahm ihre kühle Hand und wollte sie an meine Lippen führen, was sie jedoch nicht zuließ; sie erwiderte den Gruß nur mit einem förmlichen Händedruck in der Art der Petersburger emancipées . Ich hielt ihre Hand einen Moment lang fest.
    »Sie ist eine hervorragende MG-Schützin«, sagte Tschapajew. »Hüten Sie sich also, sie herauszufordern.«
    »Kann es denn sein, daß diese zarten Finger irgendwem den Tod bringen?« fragte ich und gab ihre Hand frei.
    »Es kommt ganz darauf an«, sagte Tschapajew, »was Sie mit dem Tod meinen.«
    »Gibt es diesbezüglich unterschiedliche Standpunkte?«
    »O ja«, sagte Tschapajew.
    Wir setzten uns an den Tisch. Der Baschkire entkorkte mit verdächtigem Geschick eine Flasche Champagner und schenkte ein.
    »Lassen Sie mich das Glas erheben«, sagte Tschapajew und fixierte mich mit seinen hypnotischen Augen, »auf die schreckliche Zeit, in die wir hineingeboren wurden, und auf all jene, die selbst in diesen Tagen nicht aufhören, nach der Freiheit zu streben.«
    Die Logik seiner Worte schien mir eigentümlich: War die Zeit denn nicht nur deswegen so schrecklich, weil »all jene«, wie er sich auszudrücken beliebte, nach der sogenannten Freiheit strebten? Oder wessen Freiheit war gemeint – und Freiheit wovon? Anstatt etwas zu entgegnen, nippte ich lieber vom Champagner. (Dieses einfache Rezept befolgte ich stets, wenn Champagner auf dem Tisch war und das Gespräch sich um Politik drehte.) Nach den ersten Schlucken merkte ich plötzlich, wie hungrig ich war, und begann zu essen.
    Es ist schwer zu beschreiben, welche Gefühle ich empfand. Was hier vor sich ging, war so unwirklich, daß die Unwirklichkeit schon nicht mehr zu spüren war; so pflegt es im Traum zu sein, wenn der Verstand, in einen Strudel phantastischer Visionen geworfen, gleich einem Magneten jedes kleinste, vom üblichen Lauf der Dinge her vertraute Detail an sich zieht und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, womit er noch dem verworrensten Alptraum den Anschein tagtäglicher Routine verleiht. Einmal hatte ich geträumt, ich säße aufgrund einer unglücklichen Verquickung von Ereignissen als Engel auf der Spitze der Peter-Pauls-Kathedrale, des heftig blasenden Windes wegen damit beschäftigt, die Jacke zuzuknöpfen, deren Knöpfe einfach nicht in die Löcher rutschen wollten – und mich verwunderte längst nicht so sehr, daß ich mich dort droben am Petersburger Himmel wiederfand, wie der Umstand, daß diese simplen Handgriffe nicht glücken wollten. Etwas Ähnliches widerfuhr mir im Augenblick – mein Bewußtsein ließ das Irreale des Geschehens außen vor; der Abend selbst schien normal zu verlaufen, und wäre nicht das sanfte Schaukeln des Wagens gewesen, hätte man sich in einem der kleinen Petersburger Cafés wähnen können, vor dessen Fenstern die Laternen der Fuhrwerke vorüberzogen.
    Ich aß schweigend und schielte nur hin und wieder zu Anna hinüber. Sie gab Tschapajew, der ihr etwas von Lafetten und Geschützen erzählte, knappe Antworten, doch war ich von ihr so tief beeindruckt, daß ich dem Gesprächsfaden nicht zu folgen vermochte. Die absolute Unzugänglichkeit ihrer Schönheit bekümmerte mich; ich wußte, daß mit begehrenden Händen nach ihr zu greifen so sinnlos war, als versuchte

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