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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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da lagen Sie und schliefen und pfiffen so ein bißchen im Traum vor sich hin, und es war – zugegeben, nicht ganz sauber intoniert – diese Fuge. Und ich bin ein großer Mozartfreund, müssen Sie wissen. Ich habe früher am Konservatorium studiert und mich auf eine Laufbahn als Musiker vorbereitet. Aber seither hat sich vieles im Leben verändert. Wieso interessiert Sie das so sehr?«
    »Nur so«, sagte ich. »Ein seltsamer Zufall, weiter nichts.«
    Wir traten ins Treppenhaus. Die Schlüssel steckten tatsächlich im Schloß. Mechanisch sperrte ich ab, warf die Schlüssel in die Jackentasche und lief hinter Tschapajew die Treppe hinunter Dabei fiel mir ein, daß ich nie im Leben die Angewohnheit besessen hatte zu pfeifen. Schon gar nicht im Traum.
    Beim Hinaustreten auf die sonnige, frostige Straße fiel mein Blick als erstes auf den langen, graugrünen Panzerwagen – denselben, den ich am Vortag auf der Straße vor dem Varieté hatte stehen sehen. Solch ein Auto war mir bis dahin noch nicht begegnet – offenbar eine Novität aus den Werkstätten der Vernichtungswissenschaften. Die Außenhaut war dicht an dicht mit groben, halbmondförmigen Nietenköpfen bedeckt; die Motorhaube erinnerte an einen stumpfen Rüssel und war von zwei mächtigen Scheinwerfern flankiert; die stählerne, leicht abgewinkelte Vorderfront schaute mit ihren beiden schrägen Sehschlitzen, die den halbgeschlossenen Augen eines Buddhas glichen, drohend in Richtung Nikitskaja Ploschtschad. Obenauf schließlich der zylindrische Geschützturm; das gegen den Twerskoi-Boulevard gerichtete MG-Rohr war seitlich durch zwei sich nach vorn verjüngende Stahlblenden geschützt. In der Bordwand gab es eine kleine Tür.
    Scharen von Kindern umringten das Gefährt – manche mit Schlitten oder auf Schlittschuhen. Während die ausgewachsenen Idioten mit dem Umbau einer imaginären Welt befaßt waren, lebten diese Kinder immerhin noch in der Wirklichkeit: zwischen Schneehaufen im Sonnenlicht, auf den schwarzen Spiegeln zugefrorener Gewässer und in der mystischen Stille zugeschneiter nächtlicher Hinterhöfe. Zwar waren auch diese Kinder bereits vom Bazillus des über Rußland hereingebrochenen Wahnsinns befallen (man sah es an den Blicken, die sie auf Tschapajews blitzenden Säbel und meine Mauserpistole warfen), doch schimmerte in ihren blanken Augen ein Angedenken an etwas, das mir lange entfallen war – vielleicht die unbewußte Erinnerung an den Ursprung allen Seins, von dem sie sich, wiewohl schon eingesunken in des Lebens schändliche Wüsten, noch nicht allzu weit entfernt hatten.
    Tschapajew ging zu dem Panzerwagen und klopfte ein paarmal gegen die Bordwand. Sofort sprang der Motor an, und das Hinterteil des Fahrzeugs hüllte sich in eine blaugraue Rauchwolke. Gerade als Tschapajew die Tür öffnete, hörte ich in meinem Rücken Bremsen quietschen. Neben uns kam eine Limousine zum Stehen. Ihr entstiegen vier Männer in schwarzen Lederjacken und verschwanden in demselben Eingang, aus dem wir gerade gekommen waren. Mein Herz begann zu rasen. Sie kommen mich holen! dachte ich. Der Gedanke kam mir wohl deshalb, weil die vier mich an die Schauspieler in den schwarzen Regenmänteln erinnerten, die gestern Raskolnikows Leiche von der Bühne getragen hatten. Einer der Männer blieb in der Haustür stehen und sah zu uns herüber.
    »Schneller«, rief Tschapajew mir aus dem Panzerwagen zu. »Sonst wird es hier drinnen zu kalt.«
    Ich warf mein Köfferchen ins Wageninnere, kletterte hastig hinterher und schlug die Tür zu.
    Das Interieur des düsteren Gefährts begeisterte mich auf Anhieb. Der kleine, durch eine Zwischenwand vom Chauffeur abgetrennte Raum wirkte wie ein Coupé im Nordexpreß – zwei schmale, lederbezogene Bänke, dazwischen ein kleiner Tisch und ein Teppich auf dem Fußboden erzeugten, ungeachtet der Enge, ein Gefühl von Behaglichkeit. In das Dach war ein rundes Oberlicht eingelassen, durch das der massive Sockel des verhüllten Maschinengewehrs zu sehen war; zum Geschützturm hinaufführte eine kleine, durchbrochene Wendeltreppe, die in einer Art Drehstuhl mit Fußstützen endete. Als Beleuchtung diente ein elektrisches Lämpchen, hell genug, um ein Bild betrachten zu können, das an den vier Rahmenecken an die Wand geschraubt war. Es war eine kleine Landschaft im Stile John Constables: Brücke über einen Fluß, Gewitterwolke am Horizont nebst ein paar romantischen Ruinen.
    Tschapajew griff nach dem Trichter der Wechselsprechanlage und

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