Buddhas kleiner Finger
löschte das Licht.
Nun saßen wir in völliger Dunkelheit. Ich sah absolut nichts, hörte nur das gleichmäßige Brummen des Motors (die Schalldämpfung des gepanzerten Fahrzeugs war, nebenbei gesagt, vorzüglich, nicht der geringste Straßenlärm drang herein) und spürte ein leichtes Schaukeln. Tschapajew rieb ein Streichholz an und hielt es über den Tisch.
»Schauen Sie auf die Klinge«, sagte er.
Ich blickte in den verschwommenen rötlichen Widerschein, der sich auf der stählernen Fläche abzeichnete. Er hatte eine merkwürdige Tiefe – so als sähe ich durch eine leicht beschlagene Scheibe in einen langen, kaum beleuchteten Korridor. Über den Lichtfleck glitt ein schwaches Flimmern, und dann sah ich einen kraftlosen alten Mann in aufgeknöpfter Jacke den Korridor entlangschleichen, kahlköpfig und unrasiert; die rötlichen Stoppeln auf seinen Wangen gingen in einen struppigen Kinn- und Oberlippenbart über. Der Mann bückte sich, streckte die zittrigen Hände aus, und ich sah nun, daß sich ein Kätzchen mit großen, traurigen Augen in eine Ecke des Korridors drückte. Das Bild war außerordentlich klar, wenn auch verzerrt, wie von einer Christbaumkugel gespiegelt. Plötzlich mußte ich husten. Da zuckte Lenin zusammen (er war es, kein Zweifel!), drehte sich um und starrte in meine Richtung. Ich hatte den Eindruck, daß er mich sah; eine Schrecksekunde lang waren seine Augen weit, dann wurde der Blick verschlagen und ein bißchen verschämt; grinsend drohte mir Lenin mit dem Finger und sagte:
»Warte nur, balde ruhest auch du!«
Tschapajew blies auf das Hölzchen, und das Bild fiel in sich zusammen; ich sah gerade noch, wie das Kätzchen Reißaus nahm, und wußte im selben Moment, daß ich all das nicht von der Klinge des Säbels abgelesen hatte; auf unerklärliche Weise war ich eben noch dort gewesen und hätte, dessen war ich mir sicher, das Kätzchen mit Händen greifen können.
Das Licht ging an. Entgeistert starrte ich auf Tschapajew, der den Säbel schon in die Scheide zurückgesteckt hatte.
»Wladimir Iljitsch beim Wiederlesen von Goethe«, sagte er.
»Was war das?« fragte ich.
Tschapajew zuckte die Achseln.
»Lenin«, sagte er.
»Hat er mich gesehen?«
»Wohl nicht direkt. Ich denke, er hat gespürt, daß jemand im Raum war. Aber das wird ihn nicht besonders aufgeregt haben. Er ist so etwas gewöhnt. Auf ihn sind viele Blicke gerichtet.«
»Aber wie haben Sie denn … Ich meine, wie ging das? War es Hypnose?«
»Nicht mehr als alles übrige«, sagte er, mit dem Kopf zur Wand deutend und auf das, was dahinter lag.
»Wer sind Sie wirklich?« fragte ich.
»Das fragen Sie mich heute schon zum zweitenmal. Und es bleibt dabei, daß ich Tschapajew heiße. Das ist vorläufig alles, was ich Ihnen sagen kann. Lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Sie dürfen mich aber im privaten Gespräch ruhig mit Wassili Iwanowitsch ansprechen. ›Genosse Tschapajew‹ klingt so furchtbar feierlich.«
Ich wollte noch weitere Erklärungen fordern, als eine plötzliche Eingebung mich davon abhielt. Ich verstand, daß meine Hartnäckigkeit zu nichts führen würde; sie konnte sogar schaden. Das Verblüffendste aber war, daß dieser Gedanke nicht von mir stammte – ich spürte, er kam, wie auch immer, von Tschapajew.
Das Auto verlangsamte die Fahrt. Aus dem Wechselsprecher klang die verzerrte Stimme des Chauffeurs:
»Der Bahnhof, Wassili Iwanowitsch!«
»Hervorragend«, gab Tschapajew zur Antwort.
Einige Minuten wurde hin- und hermanövriert, bevor der Wagen endgültig zum Stillstand kam. Tschapajew setzte die Mütze auf, erhob sich von der Bank und öffnete den Schlag. Kalte Luft strömte in die Kabine, mit ihr drangen die rötlichen Wintersonnenstrahlen und der dumpfe Lärm Hunderter durcheinanderschwirrender Stimmen herein.
»Vergessen Sie Ihr Köfferchen nicht«, sagte Tschapajew und sprang behende auf die Erde. Das gemütliche Halbdunkel des Wagens verlassend, folgte ich ihm blinzelnd nach.
Wir befanden uns mitten auf dem Vorplatz des Jaroslawler Bahnhofs, umgeben von einer wogenden Menge Menschen, die unterschiedlich gekleidet, doch allesamt bewaffnet waren und zu etwas wie einem Karree formiert standen. Vor den Reihen liefen irgendwelche roten Kommandeure niederer Chargen mit blankgezogenen Säbeln auf und ab. Als Tschapajew auftauchte, ertönten zunächst einzelne Rufe, dann schwoll der allgemeine Lärm der Stimmen an und verfestigte sich Sekunden später zu einem donnernden »Hurra«, das den
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