Buddhas kleiner Finger
ein Pferd. Ich wandte mich um und sah es. Tschapajew stand daneben und bearbeitete ihm mit einem Striegel die Mähne. Ich trat näher und blieb vor ihm stehen. Er sah mich an. Was er wohl sagen würde, so mein erster Gedanke, wenn ich ihn fragte, wo sein Nirgendwo zu finden sei? Er hätte dieses Wort zwangsläufig aus sich selbst heraus definieren müssen und damit im gleichen Dilemma gesteckt wie vorhin ich.
»Kannst wohl nicht schlafen?« fragte Tschapajew.
»Stimmt«, sagte ich. »Bin etwas daneben.«
»Was ist? Hast wohl nie vorher ins schwarze Loch geguckt?«
Mit dem schwarzen Loch war vermutlich jenes Nirgendwo gemeint, das mir heute tatsächlich erstmals im Leben so recht vor Augen getreten war.
»Ja«, erwiderte ich. »Es war das erste Mal.«
»Wo hattest du denn früher deine Augen?« wollte Tschapajew wissen, es klang mitfühlend.
»Wechseln wir lieber das Thema«, sagte ich. »Wo sind meine Traber?«
»Im Stall«, sagte Tschapajew. »Seit wann sind es deine?«
»Seit einer Viertelstunde ungefähr.«
Tschapajew ließ ein Brummen hören.
»Sei mit Kotowski bloß vorsichtig«, sagte er dann. »Er ist nicht so einfach zu nehmen, wie es scheint.«
»Ich weiß schon«, antwortete ich. »Wassili Iwanowitsch, Ihre Worte von vorhin gehen mir nicht aus dem Sinn. Sie können einen ganz schön in die Enge treiben.«
»Stimmt«, sagte Tschapajew und zog den Striegel heftig durch das verzwirbelte Pferdehaar, »das kann ich gut. Und dann halt ich drauf, rattatata …«
»Aber ich glaube, ich kann das auch«, sagte ich.
»Probier's.«
»Gut«, sagte ich. »Ich würde Ihnen auch gern ein paar Fragen stellen – zur Lage.«
»Mach nur, mach.«
»Dann also von vorn. Sie striegeln da gerade dieses Pferd. Wo befindet es sich?«
Mit großen Augen sah Tschapajew mich an.
»Was soll das, Petka, bist du jetzt ganz übergeschnappt?«
»Wieso?!«
»Da steht es doch.«
Einige Sekunden blieb ich stumm. Auf solch einen Konter war ich nicht gefaßt gewesen. Tschapajew schüttelte argwöhnisch den Kopf.
»Ich finde, Petka, du solltest schlafen gehen.«
Mit einem dümmlichen Lächeln zog ich mich zurück und ging ins Haus. Irgendwie fand ich bis zu meinem Bett, ließ mich hineinfallen und sackte Stück für Stück in den nächsten Alptraum, dessen Unausweichlichkeit mir schon im Treppenhaus bewußt geworden war.
Und er ließ nicht lange auf sich warten. Ich träumte von einem blauäugigen, blonden Mann, der mit Stricken an einen seltsamen Sessel gefesselt war, eine Art Zahnarztstuhl. Sein Name war mir im Traum bekannt, er hieß Serdjuk – und ich wußte, was ihm da geschah, stand demnächst auch mir bevor. Von Serdjuks Armen führten verschiedenfarbige Drähte zu einer auf dem Fußboden stehenden, bedrohlich wirkenden Maschine, die aussah wie ein Generator; irgendwie ließ der Traum die Ahnung zu, daß diese Maschine eine Ausgeburt meiner Phantasie war. Die Maschine besaß eine Kurbel, an der zwei Männer in weißen Kitteln drehten. Erst drehten sie vorsichtig, der Mann auf dem Stuhl zuckte nur ein wenig und biß sich auf die Lippen. Bald aber wirbelten sie geschwinder, und der Körper des Gefesselten wurde wellenweise von heftigen Krämpfen geschüttelt. Schließlich konnte er seine Zunge nicht mehr im Zaum halten. »Aufhören!« bettelte er.
Doch seine Peiniger drehten die Kurbel nur noch schneller. »Abschalten!« brüllte er aus Leibeskräften. »Den Dynamo abschalten, bitte! Den Dynamo! Dy-naaa-mooo!«
6
»Nächste Station: Dynamo«, sagte die Lautsprecherstimme.
Der gegenübersitzende Fahrgast, ein Mann von sehr seltsamem Äußeren – narbiges Mondgesicht, schmutziger Steppmantel, Turban mit Spuren von grüner Farbe – bemerkte den Blick Serdjuks, der ihn schon minutenlang ohne Grund anstarrte, kratzte sich am Ohr, legte zwei Finger an seinen Turban und sagte laut:
»Heil Hitler!«
»Gleichfalls«, erwiderte Serdjuk höflich und wandte den Blick ab.
Unbegreiflich, was das für ein Mann war und warum er mit der U-Bahn fuhr – mit dem Gesicht hätte er es längst zu einem BMW bringen müssen.
Direkt über dem Typen hing ein Werbeplakat, auf dem das Foto eines glücklichen jungen Milchtrinkers mit dem Slogan WACHSEN UND GEDEIHEN untertitelt war. Irgendwer hatte das A ausradiert und durch ein I ersetzt. Serdjuk seufzte teilnahmsvoll, schielte dann nach rechts und begann in dem Buch zu lesen, das seinem Banknachbarn auf den Knien lag. Es war eine in Zeitungspapier eingeschlagene Broschüre; auf der
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