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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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zerfledderten Hülle stand mit Kugelschreiber: »Der japanische Militarismus«. Dem Anschein nach ein Leitfaden mittlerer Geheimhaltungsstufe aus Sowjetzeiten. Das Papier war schon vergilbt, das Schriftbild eigentümlich: Im Text fand sich eine Vielzahl japanischer Wörter, großbuchstabig, in kyrillischer Umschrift.
    »Soziale Verantwortung und natürliches Pflichtgefühl durchdringen einander«, las Serdjuk, »und erzeugen eine tiefe, dramatische Emotionalität. Solcherart Befindlichkeit drückt sich für die Japaner in den Begriffen NAKE und DEI aus, die noch längst nicht der Vergangenheit angehören. NAKE ist die bewußtgemachte ›Erkenntlichkeit‹ des Kindes gegenüber den Eltern, des Vasallen gegenüber dem Suzeränen, des Bürgers gegenüber dem Staat. DEI meint die ›Schuldigkeit‹ die jedermann dazu anhält, ein Leben gemäß seinem Stand und seiner Position in der Gesellschaft zu führen. Dies schließt eine Schuldigkeit sich selbst gegenüber ein: die Ehre und Würde der eignen Person, des eignen Namens zu wahren. Die Bereitschaft, sich für NAKE und DEI zu opfern, ist so etwas wie ein sozialer, professioneller und menschlicher Verhaltenskodex.«
    Der Nebenmann hatte offenbar bemerkt, daß Serdjuk mitlas, er hob sein Buch knapp vor das Gesicht und deckte es noch dazu ab, so daß der Text nicht mehr einzusehen war. Serdjuk schloß die Augen.
    Deshalb führen die ein normales Leben, dachte er, weil sie an ihre Pflicht denken. Und nicht in einem fort saufen und krakeelen wie unsereins.
    Was innerhalb der nächsten Minuten in Serdjuks Kopf vor sich ging, weiß man nicht; als der Zug in die Station Puschkinskaja einfuhr, verspürte er jedenfalls das heftige Bedürfnis zu trinken – nein, nicht nur zu trinken, sondern zu saufen – und stieg aus. Zunächst war dieses Bedürfnis noch ganz unausgeformt und unbewußt vorhanden, äußerte sich nur als vage Sehnsucht nach etwas, das unerreichbar und verloren schien; Formen nahm das Ganze erst an, als Serdjuk der langen Batterie gepanzerter Kioske gegenüberstand, aus deren Sehschlitzen ausdruckslos die immergleichen kaukasischen Gesichter schauten und das feindliche Territorium observierten.
    Sich auf ein konkretes Getränk festzulegen fiel schwer. Das Sortiment war groß, aber durchweg zweitklassig – wie bei politischen Wahlen. Serdjuk zögerte lange, bis er schließlich in einer der Buden eine Flasche Portwein mit Namen »Liwadija« entdeckte.
    Sowie Serdjuk die Flasche sah, stand ihm ein lange vergessener Morgen seiner Jugend vor Augen. Ein Winkel des Institutshofes, von allerlei Kisten verstellt, Sonne auf dem herbstgelben Laub und die Clique grölender Kommilitonen, die eine Flasche dieses Portweins kreisen ließ (das Etikett allerdings etwas anders aussehend – noch ohne das ukrainische »i« mit dem Pünktchen darauf). Der Treffpunkt war von außen nicht einzusehen, um hinzugelangen, mußte man sich, wie Serdjuk noch genau wußte, zwischen rostigen Gitterstäben hindurchzwängen, an denen man sich die Jacke verdarb. Das Entscheidende aber war nicht der Portwein, nicht das Gitter – es waren die unüberschaubaren, von diesem umzäunten Hofwinkel aus in alle Himmelsrichtungen weisenden Wege und Möglichkeiten, die die Welt damals für einen bereithielt und die nun als Leuchtspur im Gedächtnis aufschienen und Trauer ins Herz pflanzten.
    Auf die Erinnerungen folgte ein Gedanke, der am allerwenigsten auszuhalten war: daß nämlich die Welt sich gar nicht verändert haben mochte, daß nur der Blickwinkel, unter dem man sie damals spielend hatte sehen können, nicht wiederherzustellen war. Man konnte nicht mehr so einfach zwischen Gitterstäben hindurchschlüpfen. Und selbst wenn es noch gegangen wäre – das bißchen Luft dahinter war ein für allemal verbaut mit Zinksärgen voller Lebenserfahrung.
    Den einen Trost gab es: Wenn es schon nicht mehr möglich war, die Welt unter jenem Blickwinkel zu sehen, dann doch wenigstens mit gleichviel Promille. Serdjuk schob sein Geld in die Schießscharte des Kiosks, fing die herausspringende grüne Granate auf, überquerte die Straße, balancierte zwischen Pfützen, in denen sich der nachmittägliche Frühlingshimmel spiegelte, setzte sich dem patinagrünen Puschkin gegenüber auf eine Bank und riß mit den Zähnen den Plastikkorken von der Flasche. Der Portwein schmeckte ganz genauso wie damals – was die These erhärtete, daß die Reformen nicht an die Fundamente des russischen Lebens gerührt hatten, nur als

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