Buerger, ohne Arbeit
Arbeitsbegriff
zu überdehnen, die mühsam gezogenen inneren Trennlinien der Arbeitswelt verwischen, weil jetzt alles Arbeit wäre, irgendwie?
Denn welchen Mehrwert produzieren Richter, Staatsanwälte, Mütter und Väter, welche Unternehmer sättigen
sie
auf ökonomisch zurechenbare Weise? Fragen, die schon bei der Erörterung des erweiterten Arbeitsbegriffs aufkamen (§ 17: 3)
und eine vorläufige Antwort erfuhren. Sie bannte die Arbeit, gleichgültig, welcher Sorte, in die Sphäre der Notwendigkeit
und verwies auf das Handeln und das Tätigsein als Grundformen menschlicher Freiheit. Dazu tritt nun ein neues Element, hier
erstmals in seiner Wesensart gemeint: das PRODUZIEREN.
Produzieren, seinem Alleinstellungsmerkmal gemäß bestimmt, bedeutet das Ende der Zwecke, des Kalküls, der Algorithmen, und
es beendet auch die Herrschaft des Subjekts. Produzierend stößt man auf eine Seinsschicht, die |376| weder nur dem Subjekt noch dem Objekt, weder dem Geist noch der Materie ausschließlich zuzuordnen ist, die, als Wirklichkeit
der dritten Art, beide miteinander verschwistert. Ob man sie erreicht, steht in niemandes Willen. Anstrengung bis zur Selbstaufgabe,
äußerste Konzentration und innere Versammlung bilden Ingredienzien des »Ereignisses«, vermögen es aber nicht herbeizuzwingen.
Es geschieht oder es geschieht nicht. Das untrügliche Zeichen, DASS es geschieht, ist ein »ozeanisches Gefühl«, begleitet
von der freiwilligen Unterwerfung des Schöpfers unter sein Geschöpf, das, von ihm begeistert und beseelt, nunmehr ein Eigenleben
führt.
Der Dichter zeugt von dem Mysterium am reinsten.
10. »Ich sitze stumm, ich habe das gelesen und das gehört und habe es schon wieder vergessen, und jetzt springt plötzlich
etwas hervor, und ich bin, ohne zu wissen warum, gepackt oder sinnlos ergriffen, nein, fasziniert von einem Bild. Das ist
keine Vision, keine Halluzination, sondern vieles zusammen, ein Seelenzustand von einer besonderen Helligkeit, gar nichts
Dumpfes, sondern eine ungewöhnliche geistige Klarheit, in der alles wie enträtselt ist und man das Gefühl hat wie Siegfried,
als er am Drachenblut leckte: man versteht alle Sprachen und überhaupt alles …
Diese bildgesegnete Aufhellung erlebt der Autor als den der ersten Konzeption. Das heißt: das, was vorgegangen ist im Inkubationsstadium,
ist nunmehr so weit, daß es über einen gewissen Schwellenwert hinaus ist und ihm in Sicht kommen konnte … Um es gleich klar
zu sagen:
in diesem Augenblick sitzt der Autor nicht mehr allein in seiner Stube
und denkt und brütet. Er geht zwar auch nicht wie der alte Vagant und Fabulierer unter das Volk und singt, was sie ihm zutragen,
und richtet sich nach ihren Wünschen. Aber der Autor trägt von diesem Augenblick an das Volk in sich …
Das Ich wird Publikum, wird Zuhörer, und zwar mitarbeitender Zuhörer …
Es geschieht übrigens, damit ich das Bild des Produktionsprozesses noch etwas vervollständige, hier meist noch |377| etwas ganz Merkwürdiges. Das bewußt denkende Ich bleibt nicht immer stehen auf der Stufe des Publikums, Zuschauers und Mitarbeiters,
es wird in eigentümlicher Weise in den Arbeitsvorgang einbezogen; das entstehende Werk wirkt an manchen Punkten, die zur Entfesselung
auffordern, faszinierend auf das Ich ein, verzaubert das Ich … Das Ich, der Mitarbeiter, verliert seine führende Haltung gegenüber
dem Werk, es legt Masken an, es erleidet sein Werk, es tanzt um sein Werk herum. Das Ich ist in die Spielsituation des entstehenden
Werkes einbezogen und hat wenigstens zum Teil die Kontrolle verloren …
Es gibt verschiedene Autorentypen; nicht alle verstehen, was ich meine. Dichten heißt nicht nur, wie Ibsen meinte, Gerichtstag
über sich halten, es heißt auch nicht nur, wie Moralisten und Politiker unter den Autoren meinen, Gerichtstag über sich und
die anderen halten, es heißt noch viel mehr, zum Beispiel sich loslassen, spielen, zum Beispiel den Mut haben, inneren Verzauberungen
zu erliegen und sich ihnen, formal und inhaltlich, zum Opfer machen.« 440
11. Arbeiten, Handeln, Tätigsein und Produzieren: Wie hängen diese großen Vier menschlicher Praxis innerlich zusammen, und
wie pflanzen sie ihr eigenes Reich? Aufschluß darüber erteilt, Vorbedachtes (§ 18) einbezogen, eine Rückschau, die eins ans
andere reiht. In jeder Praxis spiegelt sich das Ganze, aber eben nur zum Teil; darin besteht die Dialektik des Zusammenhangs.
Als
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