Buerger, ohne Arbeit
seinen Waffen und Überredungskünsten; alles andere wäre plumpe Überrumpelung eines zuvor zurechtgestutzten
Widerparts.
§ 6 Die Spinne Arbeit
1. Ein Kardinalfehler in bezug auf die moderne Erwerbsarbeit besteht darin, sie auf die sachliche Verrichtung, den stoffwechselnden
Vorgang zu reduzieren. Er führt umgehend zu einer akademischen Scheinfrage: Wie kann man an Arbeiten hängen, die nach Ablauf
und Umständen nichts Gewinnendes, Anziehendes besitzen, die den Menschen lebenslang |51| an eine Teilfunktion adaptieren, seinen Geist unterfordern, seine Kräfte verschleißen, seinen Nerv töten oder seine Gesundheit
untergraben? Kein Unternehmer käme auf die Idee, Arbeit als isolierten und isolierbaren Akt eines Individuums anzusehen. Selbst
wenn er die Arbeit bis ins kleinste teilt, die Kommunikation auf ein Minimum beschränkt, weiß er die Gratisgaben des Zusammenwirkens
vieler wohl zu schätzen. Was ihm sein kalkulierender Verstand sagt, sagt den Arbeitenden ihr sozialer Sinn. Aus gutem Grund
hängen sie noch am ärmlichsten Austausch mit ihresgleichen oftmals inniger als an ihrer speziellen Funktion.
Was immer Erwerbsarbeit sonst noch vermag, sie knüpft ein soziales Netz, im Herstellungsprozeß und weit darüber hinaus. Die
Sachbindung des gemeinschaftlichen Tuns ist deshalb nicht belanglos, sekundär. Als zwischen Mensch und Mensch sich schiebendes
Drittes fokussiert sie das Zusammenwirken auf den Ernst des Lebens, formuliert sie Aufgabe und Herausforderung, deren Bewältigung
Befriedigung verschafft, nicht trotz, sondern gerade aufgrund der herben Zumutung, die der Dienst am Objektiven für das Individuum
bedeutet. Derselbe Sachbezug verhindert die restlose Vereinnahmung des einzelnen durch die Gemeinschaft, deren Glied er ist.
Jeder kann sich bei Bedarf auf das zurückziehen, was jeweils »Sache« ist, und sich den anderen auch wieder öffnen. Dank dieser
Eigenschaft wohnt Arbeit die Potenz zur Erlösung vom Lastenden der mitmenschlichen Beziehung inne, setzt sie, des weiteren,
einen Kontrapunkt zum familiären Leben. »Work is not simply a way to make a living and support one’s family.« 41
Arbeit als solches »objektives« Wirken rhythmisiert den Lebensfluß, spannt ihn in ein feines Raster zeitlicher und räumlicher
Bezüge, worin er Orientierung, Perspektive auch für die läßlicher geordneten Momente des arbeitsfreien Daseins findet. Sie
verknüpft soziale, zeitliche und räumliche Netze zu einem vierdimensionalen Zeit-Raum, |52| zum irdischen Kosmos des Menschen, aus dem jäh gestoßen wird, wer die Arbeit verliert. Binnen kurzem verflüchtigt sich die
Vektoreigenschaft der Zeit, verschwimmt das eben noch genaue Zeitgefühl zu einer nur mehr groben Gliederung von Tag und Woche,
hört das Denken und Planen in kompakteren zeitlichen Einheiten auf, stellen sich infolge des Ausgesperrtseins vom gesellschaftlichen
Raum klaustrophobische Gefühle, Ängste ein, die keinen Auslauf finden. 42 Man muß sich schon eine reichlich verdrehte Vorstellung von der Erwerbsarbeit machen, um glauben zu können, sie verstoße
den Menschen aus der sozialen Welt, schneide ihn von seiner eigentlichen Bestimmung ab. Anders als die intellektuelle Marotte
es will, war und ist sie für ungezählte Millionen von Menschen Inbegriff des In-der-Welt-Seins, des Aufgehobenseins in ihr,
ähnelt sie in nichts dem berühmten Fiaker, aus dem man nach Belieben aussteigt und seiner Wege geht.
2. Kern der Vergesellschaftung des Menschen, eröffnet die Teilhabe am Erwerbsleben noch viele andere Zugänge ins soziale Leben.
Arbeit als gemeinschaftlich betriebener Stoffwechsel mit der Natur steht im Mittelpunkt des Produktionsprozesses. Doch um
ihn herum, einer Korona gleich, formt sich oftmals eine Gesellschaft im kleinen. Das gilt für eine Vielzahl kapitalistischer
Unternehmen ebenso, wie es für die größeren Wirtschaftskomplexe im Staatssozialismus galt. Das Beispiel der ehemaligen Wolfener
Filmfabrik mag das verdeutlichen. 43 Dort wurde gearbeitet, gewiß. Aber in die Arbeitssphäre eingelassen, Arbeit zur Sphäre eigentlich erst weitend, waren auch:
Betriebskinderkrippen und -kindergärten
Ferienheime
vier Ambulatorien
eine Physiotherapie
eine Sauna
eine Apotheke
|53| eine Bibliothek
eine Buchhandlung
ein Werkstheater
ein Filmstudio
ein Fotozirkel
ein Malzirkel
ein Chor
ein Kinder- und Jugendballett
Sportvereine
eine Sparkasse
eine Werkstischlerei
eine
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