Buerger, ohne Arbeit
Arroganz und verschwenden ihre eigene Zeit mit Fragen rein dogmatischer Natur, zum Beispiel:
Ist es gerechtfertigt, an einer Arbeit festzuhalten, die man ohne Lohn gar nicht ergreifen würde? 46 Im Handumdrehen konvertiert der Libertin zum gestrengen Buchhalter des Glücks der »kleinen Leute«, zum Doktrinär.
4. Erwerbsarbeit ist weder eindimensional noch in sich leer, noch wird sie einzig vom Blick auf das Entgelt zusammengehalten.
Sie hat Tiefe, Inhalt, eigene Materialität. Wie eine Spinne ihr Netz webt, so webt auch sie, außer dem Tuch, das dabei mit
herauskommen mag, ein engmaschiges, weitverzweigtes Netz einzel- wie mitmenschlicher Beziehungen und Bezüge, ein Ganzes, das
die finanziellen Bezüge unverzichtbar in sich einschließt. Die Kritik am neuzeitlichen Arbeitsglauben produziert ihrerseits
Ideologie, wenn sie darüber hinwegsieht. Der glückliche Arbeitslose, sofern er redlich ist, räumt ein, daß der Verlust der
Arbeit schmerzt, |56| obschon mit etwas schiefen Worten: »Wenn der Arbeitslose unglücklich ist, dann liegt das auch daran, daß der einzige gesellschaftliche
Wert, den er kennt, die Arbeit ist.« 47 Selbst wenn der Arbeitslose andere Werte kennt und anerkennt, von der Arbeit als dem Grund seiner bisherigen Existenz getrennt,
fällt es ihm schwer, diese Werte zu behaupten. Aktivitäten, Interessen, die in die Arbeit eingebettet waren, verlieren plötzlich
ihre Bindung, ihr Wozu. Die einzige Mitgift arbeitslosen Lebens, Zeit, wird zum tragischen Geschenk, wenn es an Anhaltspunkten
und Gefährten fehlt, sie auszufüllen. 48 Flüchtet die Spinne aus dem Netz, dann droht es zu zerfasern, zu zerreißen. Die Aufgabe, vor die sich der einzelne gestellt
sieht und die er letztlich nur gemeinsam mit anderen zu lösen vermag, lautet Netzbau ohne vorgegebenes Zentrum, Mut zu a-zentrischer
Existenz, die sich neue Mittelpunkte erst noch schaffen muß.
Es ist heute viel von der »Rückgewinnung des Sozialen« die Rede – hier findet man den harten Grund für diese Notwendigkeit.
Der tonangebende Diskurs schweigt sich über die Bedingungen der »Re-Sozialisierung« vornehm aus. Für ihn ist alles eine Frage
der Zivilgesellschaft. Sie, als Antipode des Staates aufgefaßt, soll das Soziale regenerieren, neu aus sich heraus erzeugen.
– Praktisch werden wir anders belehrt, wie ein weiteres Beispiel aus dem Osten Deutschlands exemplarisch zeigt. Dort sieht
sich die Lösung der Aufgabe mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten, hohen Hindernissen konfrontiert. Ausschließlicher noch
als in den Arbeitnehmergesellschaften des Westens waren Leben und Arbeit ineinander verwoben. Erwerbsarbeit galt als einzig
legitime Quelle von Lebensgewinnung und Lebensführung. Der ausgreifende Deindustrialisierungsprozeß bereitete dieser Üblichkeit
ein jähes Ende. Das an die wirtschaftlichen Unternehmen gebundene Aktivitäts- und Betreuungsgeflecht zerfiel im Nu, ohne auf
kommunaler Ebene angemessen rekonstruiert werden zu können. Prekär wie die materielle Existenz gestaltete sich die im engeren
Sinne soziale. Zusammen |57| mit dem Arbeiter sah sich der Mensch selbst an die Luft gesetzt. Was vermochte da der Bürger? Und wenn er angesichts dieser
höchst widrigen Umstände etwas vermochte, vermochte er es dann nicht überall?
5. Ein kleiner Ort im Mecklenburgischen, das ehemalige sozialistische Musterdorf Mestlin, gibt Fingerzeige für die Antwort. 49 Infrastrukturell vorbildlich ausgestattet, als regionales Zentrum konzipiert, wurde die landwirtschaftliche Produktion zu
DDR-Zeiten von einem kompakten Ensemble unterschiedlichster Institutionen und Einrichtungen eingefaßt, von Kinderkrippen,
Schulen, Geschäften, Gaststätten sowie von einem jener überdimensionierten Kulturhäuser, dessen reine Größe schon auf die
Umgegend verwies. Mit einhundert Beschäftigten zählte es in manchen Jahren fünfzigtausend Besucher. 50 Dann kam der Umbruch samt seiner vertrauten Begleiter: Entlassungen, Abwanderung, soziokulturelle Verödung. Immerhin gelang
die Umwandlung der vormaligen LPG in eine Produktivgenossenschaft, die sich mit stark reduziertem Personalbestand als wettbewerbsfähig
erwies. Ein kleiner Anhaltspunkt sozialen Lebens, das dennoch für Jahre verfiel. Die Hoffnung richtete sich, wie oft in vergleichbaren
Fällen, auf Belebung von außen, auf die touristische Zweitverwertung von Land und Leuten, vergeblich. Erst unter einem neu
gewählten Bürgermeister
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