Buerger, ohne Arbeit
Anpassung, Unterordnung, die Einhaltung von Regeln und Absprachen verlangen; und
immer ist auch Versagen möglich und die Enttäuschung über das Verfehlen des Ziels. Insofern ist Arbeit immer auch ein Stück
weit asketisch.« 94 Karneval der Begriffe. Was unterscheidet die Anstrengung des Arbeitenden von jener des Handelnden oder Tätigen? Wie gestaltet
sich das jeweilige Verhältnis von Sachverhaftung und Selbstbestimmung? Wie kooperiert man arbeitend, wie als Handelnder? Ist
der schöpferisch Tätige notwendig in den sozialen Austausch eingeschaltet? Liegt der Asketismus des Künstlers wirklich auf
derselben |102| Ebene wie der des Hauers im Bergwerk? Viele Fragen, keine Antworten, nur eine rätselhafte Prophezeiung: Wenn der Arbeitsgesellschaft
die Erwerbsarbeit allmählich ausgeht, schlägt die Stunde der Utopie befreiter Arbeit. 95 Wenn die Fron zu Ende ist, geht es mit dem Arbeiten erst richtig los; die trübe Aussicht resümiert den unreinen Gedanken.
6. Im erweiterten Arbeitsverständnis herrscht erbarmungslose Äquivalenz, definiert sich der Bürger wie bisher durch den Arbeiter,
den Arbeitenden, der zurückerstattet, was er zuvor an Existenzmitteln empfängt. Der Auftakt klingt ermutigend: »Wir laufen
auf einen Kapitalismus ohne Arbeit zu – und zwar in allen nachindustriellen Ländern der Welt.« Das Finale ist denkbar zaghaft:
»Ich schlage vor, ob nicht das, was als zivilgesellschaftliches Engagement überall zu beobachten ist, … aufgewertet werden
kann zu einem zweiten Aktivitäts- und Integrationszentrum neben Erwerbsarbeit:
öffentliche Arbeit, Bürgerarbeit. «
96 Nur dafür gibt es Anweisungen auf Subsistenz. Im »Gegensatz zu früheren Vorstellungen, die von den Empfängern keine oder
fast keine Gegenleistung verlangten, bindet man heute das Sozialeinkommen an gemeinnützige Arbeiten im Dritten Sektor« 97 . Das »man« ist hier besonders verräterisch. In Form einer scheinbaren Tatsachenfeststellung schleust es eine kulturelle Präferenz
in den gesellschaftlichen Diskurs ein. In Wahrheit sind es nicht zuletzt die intellektuellen Wortführer der Gegenwart, die
die ältere Anschauung bekämpft und durch die jetzt herrschende Ansicht ersetzt haben. Größer noch als ihre Sorge über den
kritischen Zustand der Lohnarbeitsgesellschaft ist ihre Angst vor dem »Chaos«, das eine prinzipielle Erschütterung des modernen
Arbeitsglaubens heraufbeschwören würde.
Politiker zeigen oftmals weniger Hemmungen, wenn es darum geht, die ordnungsstiftende Funktion der Arbeit herauszustreichen:
»So soll künftig häufiger gemeinnützige Arbeit als Sanktion zur Verfügung stehen – etwa wenn es um einen Diebstahl oder andere
Delikte im Bereich der |103| leichten und mittleren Kriminalität geht. Ich halte gemeinnützige Arbeit schon deshalb für eine sinnvolle Sanktion, weil der
Täter damit einen Dienst an der Gemeinschaft leistet und Verantwortung übernehmen muß.« 98 Gemeinnutz als Sanktion, Arbeit als letzter Ordnungsruf, als Wiedergutmachung geleistet, das heißt: unentgeltlich – hier
zeigt die Bürgerarbeit ihr rüdes Wesen. Soziale Ordnung ohne Arbeit, das ist für das Einheitsdenken unvorstellbar, monströs
wie Frömmigkeit ohne den rechten Glauben.
7. Erzwungener Gratisdienst am Ganzen, so war die moralische Aufwertung von Aktivitäten unterhalb der formellen Erwerbsschwelle
gerade nicht gedacht. Vielmehr betrieb und bezweckte sie deren auch ökonomische Gleichstellung mit der Erwerbsarbeit, womit
sie indirekt kundgab, was sie von Arbeit hält: Nur bezahlte Arbeit ist »ganze Arbeit«. Das erweiterte Arbeitsverständnis schwimmt
in der gesellschaftlichen Normalität wie ein Fisch im Wasser. Wie diese führt es den Gottesbeweis »richtiger« Arbeit vom Ende
her: Ich werde bezahlt, also habe ich gearbeitet. Das ist das COGITO der Lohnarbeitsgesellschaft. René Descartes, von dem
die Formel stammt, hatte sie anders ausgeführt: Ich denke, also bin ich, und, das Denken noch nachdrücklicher als kritische
Übung verstehend: Ich zweifle, ich denke, also bin ich; dubito, cogito, ergo sum. Der große Franzose schloß von innen nach
außen, von der geistigen Praxis auf das Sein, wir schließen von außen nach innen, vom Ertrag auf die würdevolle Praxis, das
heißt auf Arbeit. Anstrengung, die keine solchen Früchte trägt, gilt uns als letztlich unerfüllte Mühe, als halbiertes Tun,
als Arbeit nur »an sich«. Zweifel, der vom Zweifel erlöst,
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