Bullenball
Wasserhahn ab.
Seltsam, wie sehr ihn das traf. War die Sehnsucht, sich mit Uli zu versöhnen,
tatsächlich so groß? Das war ihm gar nicht klar gewesen. Er zögerte. Schließlich
sah er auf.
Sie war fort. Da stand nur noch das leere Glas. Von seiner Schwester
war nichts mehr zu sehen.
Sein Blick traf den von Vanessa. Sie musste jedes Wort mit angehört
haben. Nun rang sie sich ein Lächeln ab und deutete auf den Stapel leerer
Kartons, der sich hinterm Stand angesammelt hatte.
»Ich werde mal Rohrzucker holen«, sagte sie. »Bevor der nächste
Ansturm kommt.«
Von außen betrachtet war er grausam und ungerecht. So musste das auf
einen wirken, der seine Familie nicht kannte. Aber er war im Recht, nicht Uli.
Da gab es keinen Zweifel.
Er wünschte, Vanessa das alles erklären zu können. Sie sollte nicht
schlecht über ihn denken. Auch wenn sie sich kaum kannten. Er wollte von ihr
respektiert werden.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie.
»Ja, bis gleich.«
Sie nahm einen leeren Karton und verschwand.
Wäre Uli doch einfach bei Jule und den anderen geblieben. Er
versuchte, sie aus seinem Kopf zu verbannen. Es war jetzt ohnehin zu spät für
so etwas. Eine Versöhnung kam nicht mehr infrage.
Wahrscheinlich wäre es das Beste, die ganze Sache einfach zu
vergessen.
Vanessa nahm den vermeintlich leeren Zuckerkarton und machte sich
auf den Weg. Ben achtete nicht weiter auf sie. Er wirkte irgendwie
angeschlagen. Gab sich zwar so, als stünde er über den Dingen. Doch es war ihm
anzumerken, wie sehr ihn der Streit mit seiner Schwester belastete.
Vorsichtig schob sie sich durch das Gedränge. Der Karton musste
unbeschädigt bleiben. Auf halbem Weg zum Ausgang sah sie sich nochmals um. Ben
hatte ihr jetzt den Rücken zugewandt. Perfekt. Sie wechselte eilig die Richtung
und verschwand hinter einer Säule aus seinem Blickfeld. Dann trat sie in den
Korridor, der zum Treppenhaus führte.
Hier war es deutlich ruhiger. Die Musik war gedämpft, nur vereinzelt
schlenderten Menschen durch die Gänge. An der Treppe stellte sie den Karton ab
und löste die Kordel, die den Weg versperrte, vom Haken. Keiner nahm Notiz von
ihr. Mit dem weißen Kellnerhemd und der bodenlangen Schürze musste es für alle
aussehen, als wäre sie befugt, die Absperrungen zu passieren.
Der Zugang zu den Kellerräumen war unverschlossen. Jetzt waren es
nur noch wenige Schritte bis zu den Umkleidekabinen. Als sie den Schalter
drückte, flackerte das Licht der Leuchtstoffröhren auf. Die Feuertür fiel
hinter ihr ins Schloss. Es wurde still. An den Spinden stellte sie den Karton
ab. Sie zog einen kleinen Schlüssel hervor. Matthis hatte beim achten Spind das
Schloss ausgewechselt. Sie zählte durch und probierte den Schlüssel. Tatsächlich
glitt er mühelos hinein.
Einen Augenblick hielt sie inne. An dieser Stelle hatte Matthis
gestanden, kurz bevor er ums Leben gekommen war. Ob er geahnt hatte, dass einer
hinter ihm her war? Wie mochte er sich gefühlt, was mochte er gedacht haben, in
den letzten Minuten seines Lebens?
Sie verscheuchte die Gedanken. Für so etwas hatte sie keine Zeit.
Sie musste zum Cocktailstand zurück. Ben sollte keinen Verdacht schöpfen. Sie
öffnete vorsichtig den Karton, holte eine kleine Schachtel heraus und stellte
sie mit spitzen Fingern in den Spind. Dann löste sie den Deckel von der
Schachtel. Ein übler Geruch schlug ihr entgegen. Sie wandte das Gesicht ab,
schlug die Tür zu und verschloss sie wieder.
Einen großen Haufen Hundescheiße, das würde Tim finden, wenn er
diesen Spind öffnete. Er würde sich sehr wundern. Schade, sie hätte gerne
seinen Gesichtsausdruck gesehen. Wenn er glaubte, sie würde sich genauso
hintergehen lassen wie Matthis, dann hatte er sich geschnitten. Denn sie
wusste: Tim war es, der Matthis getötet hatte. Matthis war für ihn überflüssig
geworden. Einer mehr, mit dem er das Geld teilen musste. Also hatte er ihn aus
dem Weg geräumt. Und ebenso würde er es mit Vanessa machen. Doch im Gegensatz
zu Matthis war sie vorbereitet. Sie würde sich nicht so leicht aus dem Spiel
drängen lassen.
Sie nahm den leeren Zuckerkarton und kehrte nach oben zurück. Sie
musste sich jetzt beeilen und Rohrzucker aus dem Lager holen. Wenn alles gut
ging, war ihre Abwesenheit keinem aufgefallen.
Adelheid nahm Haltung an. Sie ließ sich nichts anmerken. Sorgfältig
steckte sie die Eintrittskarte ein und betrat das Foyer. Die Mädchen am
Eingang, die sich in die Rippen stießen und kicherten, ignorierte
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