Bullenhitze
ja eigentlich kein Problem, denn es gibt nun mal dicke und dünne Menschen, aber wir waren schon erstaunt, dass plötzlich nur noch die Dicken gestorben sein sollten. Darum haben wir uns ein bisschen umgehört und herausgefunden, dass unser schärfster Wettbewerber, das Krematorium in Diemelstadt, einen Zuschlag für übergewichtige Leichen eingeführt hat. Ab einem bestimmten Gewicht wurde die Verbrennung einfach ein paar Euro teurer, was zur Folge hatte, dass die Bestatter die Leichteren dorthin brachten, und die Schwereren ausschließlich zu uns. Mit der Folge, dass wir mit den veranschlagten Zeiten für die einzelnen Verbrennungen nicht mehr hingekommen sind.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ein dicker Mensch braucht nun mal deutlich länger, bis er den Ofen für den Nächsten frei macht, um das mal vereinfacht auszudrücken. Und das ist nur eine von vielen Episoden, die ich Ihnen schildern könnte.«
Wieder nahm er einen großen Schluck aus der Dose.
»Apropos Diemelstadt, da kann ich noch etwas zu erzählen, wenn Sie wollen.«
Wieder nickten die beiden.
»Ein weitverbreiteter Trick der Bestatter besteht darin, den Hinterbliebenen zu verklickern, dass die Bestattung in Diemelstadt ein paar Euro günstiger ist als die in Kassel, was unbestritten stimmt. Was die Jungs den armen Trauernden aber nicht erzählen ist, dass der Transport dorthin zehnmal mehr kostet als die Einsparung. So wird in der Branche Geld verdient, und das nicht zu knapp.«
Lenz setzte sich aufrecht und warf dem Mann einen bewundernden Blick zu. »Haben Sie keine Angst, Herr Abel, dass Sie Ärger kriegen könnten, weil Sie uns das alles so offen erzählen?«
Der weißhaarige Mann deutete auf einen Kalender hinter den Polizisten. »Sehen Sie die rosa Markierungen da, die im November und die paar im Dezember? Das sind meine letzten Tage hier. Ab dem 5. Dezember hab ich meine Ruhe, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue.«
»Und Sie haben immer hier gearbeitet?«
»Jeden einzelnen Arbeitstag meines Lebens. Ich habe viele kommen und gehen sehen in diesen 46 Jahren, das können Sie mir glauben. Aber ich bin froh, dass ich es hinter mir habe. Die Bedingungen sind in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, der Druck immer größer.«
»Wem sagen Sie das?«, meinte Lenz. »Aber eine Frage hätte ich noch«, fuhr er fort. »Wissen Sie etwas darüber, ob der Bauunternehmer Kronberger in der Sache mit dem Krematorium drinsteckt?«
Abel schüttelte den Kopf. »Nein, das tut mir leid. Ich kenne zwar die Firma und habe mitgekriegt, dass der Senior sich umgebracht hat, aber im Zusammenhang mit dem Krematoriumsbau habe ich den Namen nie gehört.«
»Und wie steht es mit Sebastian Bittner? Fällt Ihnen dazu was ein?«
»Der Held der Stadt Hofgeismar, der sogenannte Olympiateilnehmer. Zu dem fällt mir auf jeden Fall was ein, aber das ist leider nicht druckreif.«
»Wieso?«
»Der Kerl hat in den letzten anderthalb Jahren alles getan, um den Bau des Krematoriums zu verhindern, bis er letztes Wochenende erklärt hat, dass er nach Abwägung aller ihm bekannten Fakten zu dem Schluss gekommen wäre, der Bau sei gut für die Gemeinde und die Bürger. Ich glaube, der kann sich zur Zeit in Hofgeismar nicht frei bewegen, ohne körperliche Beeinträchtigungen befürchten zu müssen.«
Auf dem Monitor vor Abel flackerte ein kleines rotes Licht auf, dann ertönte ein Warnton.
»Das war’s jetzt, die Herren«, erklärte der Krematoriumsmitarbeiter bestimmt und erhob sich. »Der nächste Sarg will geholt werden, ich muss runter in den Keller.«
Die Polizisten bedankten und verabschiedeten sich.
»Und viel Spaß bei Ihrer neuen Herausforderung als Ruheständler«, wünschte Lenz noch, nachdem er dem Mann eine seiner Visitenkarten überreicht hatte mit der Bitte um einen kurzen Anruf, wenn ihm noch etwas Wichtiges einfallen würde.
25
Monika Wohlrabe stieg aus ihrem Wagen, drückte auf die Fernbedienung der Zentralverriegelung und schlang sich ihren Schal mit einer eleganten Bewegung um den Hals. Dann drehte sie sich um, ging etwa 200 Meter aufwärts, überquerte mit schnellen Schritten den Königsplatz und nahm Kurs auf die Kurfürstengalerie. Dort fuhr sie mit der Rolltreppe in den ersten Stock, betrat das Mövenpick-Restaurant und durchquerte den ganzen Raum, um einen Tisch im hintersten Winkel anzusteuern.
»Guten Tag, Herr Schrick«, begrüßte sie den Mann, der dort mit einem Glas Tee Platz genommen hatte und in
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