Bullenpeitsche: Kriminalroman (Droemer) (German Edition)
da die Finger drin hat. Die Zeichen blinken immer greller, sie schreien fast schon: HIER! Ein Killer mit einem osteuropäischen Akzent. Eine Mini-Uzi aus dem Balkankrieg. Eine brutale Mafianummer mit einem harmlosen Haustier.
Der Calabretta zuckt mit den Schultern und sagt: »Wir dürfen uns da nicht verrennen, Leute.«
Er fürchtet sich, wie wir alle. Er fürchtet sich davor, die Jagd auf den Albaner ein weiteres Mal für eröffnet zu erklären. Und dann ein weiteres Mal zu scheitern. Es gibt Polizisten, die haben sich an einem einzigen Mann die Zähne ausgebissen. Die sind darüber bekloppt geworden. Da ist der Täter zum Gegenspieler geworden. Der Calabretta ist noch nicht ganz auf dem Weg dahin, aber er sieht die Schilder.
* * *
Sie sitzt genau da, wo sie auch am Sonntag saß. Auf einer Plastiktüte, unter der Brücke, die zum Fähranleger führt. Ihr trauriger schwarzer Hund sitzt neben ihr und kuckt aufs Wasser. Sie hat den
Arm um ihn gelegt, der Hund drückt sich an sie. Ich weiß auch nicht, warum genau ich aufs Schiff gestiegen und wieder hierhergefahren bin. Ich musste an sie denken. Sie hat irgendetwas, das mich nicht los lässt. Vielleicht ist es auch der Hund. Vielleicht musste ich nach dem toten Tier ein lebendiges sehen. Wenn auch ein depressives.
»Hey«, sage ich.
Sie lächelt, als sie mich sieht, und flüstert ihrem Hund was ins Ohr. Der Hund seufzt erleichtert.
»Was haben Sie ihm erzählt«, frage ich.
»Ich habe ihm nur gesagt, dass es jetzt Zigaretten gibt«, sagt sie.
»Stimmt«, sage ich, gehe neben den beiden in die Knie, hole zwei Luckys aus meiner Packung, zünde sie an und stecke dem Hund eine von beiden zwischen die Lippen. Er atmet ein und wieder aus und sieht mich mit seinen glasigen Augen dankbar an.
»Kaufen Sie ihm doch einfach mal ein paar Kippen«, sage ich. »Wie heißt er denn eigentlich?«
»Kleiner Donner«, sagt sie. »Das ist ein wilder Mustang aus einer Indianergeschichte.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Selten ein Wesen mit einem so unpassenden Namen getroffen.
Sie legt ihren Kopf auf den Kopf vom Kleinen Donner, der raucht und schaut und seufzt.
»Und wie heißen Sie?«, fragt sie.
»Chastity«, sage ich.
»Sie kommen nicht von hier?«
»Mein Vater war Amerikaner.«
»Verstehe«, sagt sie und sieht mich an.
»Und Sie?«, frage ich.
»Ich bin Marokkanerin. Meine Familie kommt aus Essaouira, einer Stadt am Atlantik.«
Sie macht die Augen zu.
»Da weht immer ein so heftiger Wind, dass es keine Wolken gibt. Da scheint immer die Sonne.«
»Was machen Sie dann hier in Hamburg?«, frage ich.
»Das frage ich mich auch schon eine ganze Weile«, sagt sie und wirft einen enttäuschten Blick auf die Elbe.
Sie steht auf, streicht ihren Sommermantel glatt, streckt mir die Hand hin und sagt: »Ich heiße Naima.«
Es klingt, als würde sie sagen: Ich bin die Königin der Wüste. Ich nehme Naimas Hand und halte sie einen Moment lang fest.
Kleiner Donner rutscht mit seinem Hundepo ein Stück zur Seite, bis er auf der Plastiktüte sitzt. Von seiner Zigarette fällt etwas Asche auf den Strand. Direkt neben uns landet eine Bande von struppigen Möwen im nassen Sand.
Naima greift in ihre Tasche, holt eine Tüte mit trockenem Brot heraus und hält sie mir hin.
»Bitte.«
»Danke«, sage ich, nehme ein paar Brocken Brot aus der Tüte und werfe sie den Möwen vor die Füße. Sie sind vorsichtig, sie stürzen sich nicht darauf. Aber sie nehmen das Brot wahr, und es scheint sie zu beruhigen, dass es da ist. Sie hören auf mit ihren Möwenschreien und werden ganz still.
Naima nimmt sich auch ein Stück Brot, legt es auf ihre Hand, hält die Hand in die Luft und wartet. Es dauert keine zehn Sekunden, da kommt die erste Möwe geflogen, setzt sich ganz kurz auf Naimas Hand und schnappt sich das Brot. So geht das ein paar Mal. Als würden die sich kennen, die Frau und die Wasservögel.
»Sie haben keine Angst vor Menschen, man darf sie nur nicht erschrecken«, sagt Naima. »Früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatten wir immer Möwenfamilien auf unserer Dachterrasse. In Essaouira leben die Möwen und die Menschen gemeinsam auf den Dächern.«
Sie sieht mich an, als würde sie damit rechnen, dass ich etwas davon verstehen würde. »Wo wohnen Sie?«
»Auf Sankt Pauli«, sage ich. Das ist vielleicht wirklich so ähnlich wie eine Dachterrasse. Eine Dachterrasse für alle, und jeder darf sein, wie er will.
»Ich wohne da oben«, sagt sie, sie zeigt mit dem
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